Nach einem vierjährigen Bürgerkrieg mit mehr als 220'000 Toten ist Experten zufolge die Teilung Syriens besiegelt. Präsident Baschar al-Assad konzentriert sich demnach auf die Verteidigung eines Kerngebietes von der Hauptstadt Damaskus zum Küstenstreifen im Nordwesten, wo seine alawitischen Glaubensbrüder leben.
«Den Staat an sich, den gibt es nicht mehr»
Unterdessen haben die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) den Osten, die rivalisierende Islamistengruppe Dschaisch al-Fatah den Nordwesten, die Kurden den Norden und die Nationalisten den Süden an sich gerissen.
«Das alte Syrien, der Nationalstaat, den Staat an sich, den gibt es nicht mehr», sagt der Politologe Fawaz Gerges von der London School of Economics. «Was wir jetzt haben, sind rivalisierende Stämme, nicht-staatliche Akteure, Kriegsfürsten, die sich bekämpfen.»
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«Zustand der unerklärten Teilung»
Auch Rami Abdulrahman von der oppositionsnahen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte sieht das so. «Syrien befindet sich im Zustand einer unerklärten Teilung», sagt er. Die Regierung versuche, «ihre Kräfte in umgrenzten Gebieten mit strategischer Bedeutung» zu bündeln. Dazu gehöre die Aufstellung einer Brigade zur Küstenverteidigung.
Den Experten zufolge wurden im März erste Zeichen der neuen Situation sichtbar. In dem Monat fiel die Stadt Idlib im Nordosten, gefolgt von Dschisr al-Schughur. Auch an den anderen Fronten haben die Regierungstruppen Rückschläge hinnehmen müssen, zum Beispiel als der IS die antike Stadt Palmyra eroberte.
Noch in zehn Jahren keine Lösung für Syrien
Palmyra habe nicht verteidigt werden können, weil die Regierung «nicht jeden Soldaten ersetzen kann, den sie verliert», sagt Abdulrahman.
Erst jetzt werde der syrischen Regierung unter dem Druck ihrer Verbündeten in Russland und China ihre grösste Schwäche bewusst: Die Minderheitenherrschaft durch die Alawiten bedeute, dass zunehmend weniger Soldaten zur Verfügung stehen im Kampf gegen sunnitische Islamisten. «Das ist vorbei», sagte Abdulrahman. «Die Minderheit wird ab jetzt nie wieder über die Mehrheit herrschen.»
Auch nach der faktischen Teilung des Landes ist kein Ende des Krieges abzusehen, sagen die Experten. «Selbst wenn das Regime morgen zusammenbrechen sollte, wird es in zehn Jahren noch keine Lösung für Syrien geben», sagt Abdulrahman.
Zehntausende Kämpfer der Alawiten könnten ihre Waffen nicht abgeben aus Angst, massakriert zu werden. Ein weiteres Problem seien die Islamisten. «Wer wird die mehr als 50'000 Dschihadisten wieder los, die nach Syrien gekommen sind?»
Islamisten-Offensive gegen Aleppo
Und die Kämpfe im gesamten Land nehmen erneut an Schärfe zu. Eine Islamisten-Allianz hat ihre grösste Offensive seit drei Jahren gegen die strategisch wichtige Stadt Aleppo vorangetrieben.
Die oppositionsnahe Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte erklärte, die Aufständischen hätten im Westen der Metropole Erfolge erzielt und rückten nun auf das Zentrum vor. Aus syrischen Militärkreisen verlautete dagegen, der Angriff sei abgewehrt worden.
Die syrische Luftwaffe bombardierte Stellungen der Aufständischen. Im Staatsfernsehen wurden Dutzende Leichen von Kämpfern gezeigt und berichtet, mindestens 100 Rebellen seien bei einem Gegenangriff getötet worden.
Assad droht schwerer Rückschlag
Aleppo war vor dem Krieg die grösste Stadt des Landes und ist heute zwischen Aufständischen und der Regierung geteilt. Die Allianz von Islamisten-Gruppen wie der Al-Kaida-Ableger Nusra-Front und Ahrar al-Scham haben ankündigt, die Stadt ganz zu erobern und dort die streng islamischen Regeln der Scharia einzuführen.
Sollte Aleppo an die Rebellen fallen, wäre dies ein schwerer Rückschlag für Präsident Assad. Syrien wäre faktisch geteilt: Im Westen hätte Assad das Sagen, das übrige Gebiet wäre unter Kontrolle verschiedener Rebellengruppen. Auch die radikalislamische Terrormiliz Islamischer Staat kontrolliert weite Teile Syriens und des benachbarten Irak.
Spekulation um Einmarsch der Türkei
Die Türkei verlegte zusätzliche Soldaten, Ausrüstung wie auch Spezialkräfte an die Grenze zu Syrien. Von dort sind es noch etwa 50 Kilometer bis Aleppo. Die Massnahmen dienten allein dem Schutz des Landes, sagte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu. Es sei nicht geplant, dass türkische Einheiten ins Nachbarland vorrückten.
In einigen Medien war spekuliert worden, dass ein grenzübergreifender Einsatz unmittelbar bevorsteht.