Vor einem Jahr hat der «Islamische Staat» unter Führung von Abu Bakr al-Baghdadi ein Kalifat auf den Territorien des Irak und Syrien ausgerufen. Damit beanspruchte die Terrormiliz eigenmächtig die geistliche und weltliche Führerschaft über die Muslime. Was im Westen als Propaganda-Schachzug abgetan wurde, veranlasste führende sunnitische Geistliche und Rechtsgelehrte zu geharnischten Reaktionen.
Der ägyptische Grossmufti Shawqi Allam etwa, einer der grössten geistigen Führer der Muslime, brandmarkte den IS als «Bedrohung für den Islam» – und sprach ihm auch sonst jedwede Legitimation zur Errichtung eines Kalifats ab.
Die Welt empört sich – das «Kalifat» schafft Fakten
Ein Jahr später ist die Empörung über die Anmassung des IS immer noch da. Verfestigt hat sich aber auch das anfangs brüchige staatliche Gebilde des IS: «Das Kalifat ist sehr sicht- und wahrnehmbar. Es ist ein richtiger Staat entstanden – mit festen Grenzen, geschützt durch Zäune und Minenfelder», sagt Birgit Svensson. Die Journalistin ist im Moment an den Grenzen des Kalifats, in der Kurdenmetropole Erbil im Nordirak.
Auch abseits von abschreckenden Grenzbefestigungen hat sich das staatliche Gebilde des IS ausgebildet. «Noch vor einem Jahr lebten alle Volksgruppen des Iraks in Mosul zusammen; Kurden, Sunniten, Schiiten Assyrer, Turkmenen». Heute lebten fast nur noch sunnitische Araber in der einstigen Handelsmetropole – und sie müssten sich ganz und gar einer strikt ausgelegten Scharia-Gesetzgebung unterwerfen.
«Die Frauen sind verschleiert, sogar mit Handschuhen – nichts darf sichtbar sein. Es darf nicht geraucht werden, es gibt keinen Alkohol.» Kontrolliert werde das neue Sittenregime durch eine straff organisierte Religionspolizei: «Sie patrouillieren, gehen von Haus zu Haus – sie versuchen, die Menschen zu erziehen.»
Gekommen, um zu bleiben
Soweit also alles im Rahmen des Erwartbaren: Die Gotteskrieger zeigen sich auch im «Tagesgeschäft» wenig zimperlich. Doch mit Repression allein arbeitet der IS nicht, wie Svensson am Beispiel eines eifrigen «Jung-Bürgermeisters» erklärt. Der etwa 30-Jährige aus der Provinz Diyala habe sich den «Kampf» für ein sauberes Mosul auf die Fahnen geschrieben: «Die Strassen werden gefegt, Schlaglöcher ausgebessert. Man will zeigen, dass der IS besser als die Vorgänger regieren kann.»
Es ist ein richtiger Staat entstanden.
Denn abgesehen vom Aufbau eines Unterdrückungsapparats ist dem IS auch an der Ausbildung ziviler staatlicher Strukturen gelegen. Die Gemüsehändler müssten etwa Standgebühren für ein Jahr bezahlen: «Daran sieht man: Der IS hat sich für längere Zeit eingerichtet.» Freilich habe der IS in Mosul auch davon profitiert, dass er in der Millionenmetropole auf bestehende Strukturen habe zurückgreifen können – andernorts verliefen zwar die brutalen Angriffe und die Repression vergleichbar systematisch, die Verwaltung bleibe aber Stückwerk.
Das Angebot des IS: Ruhe und Sicherheit
Trotzdem: Der Erfolg des IS sei nicht allein mit militärischer Übermacht und Repression zu begründen. «Man glaubt oft, dem IS könne man einzig mit militärischer Aufrüstung begegnen. Das ist ein absoluter Trugschluss», sagt Svensson. Die Menschen im Irak hätten drei Kriege und Wirtschaftsembargos erlebt, einzig aufgebrochen durch allgegenwärtigen Terror.
Dagegen stelle der IS einen so einfachen wie attraktiven Gegenentwurf: Ruhe und Sicherheit. «Die Menschen sind einfach müde. Und wenn jetzt im ‹Kalifat› Ruhe einkehrt – auch mit diesen strikten Regeln – werden sich die Menschen überlegen, ob sie auf die andere Seite wechseln. Was kann ihnen die Regierungsseite anbieten, und was der IS?»