Wenn in der aktuellen Situation im Irak überhaupt von «Gewinnern» gesprochen werden kann, so müssten die Kurden so bezeichnet werden. Ihre Armee gewinnt Land, ihre autonome Region bietet Vertriebenen Zuflucht – und vergleichsweise Sicherheit.
Nach der Einnahme der nördlichen irakischen Millionenstadt Mossul durch die radikal-sunnitische Isis-Miliz vor rund einer Woche flohen hunderttausende Menschen in das kurdisch-kontrollierte Gebiet im Norden des Iraks.
Die Peschmerga, die kurdische Armee, hat im Kampf um den Norden die Kontrolle über die Ölstadt Kirkuk sowie die Provinzen Ninive und Dijala übernommen.
Diese Gebiete sind zwar mehrheitlich von Kurden bewohnt, gehören aber in den Kontrollbereich der schiitisch dominierten Zentralregierung in Bagdad. Ganz anders als die Autonome Region Kurdistan, im hohen Norden des Landes. Nach jahrelangen Kämpfen wurde 1970 ein Autonomieabkommen mit der irakischen Regierung unterzeichnet.
Autonomie nach jahrelangen Kämpfen
Doch Ruhe währte nicht lange. Während der Al-Anfal-Kampagne unter dem ehemaligen irakischen Präsidenten Saddam Hussein wurden Ende der 1980er-Jahre hunderttausende Kurden unter anderem mit Giftgasangriffen umgebracht – zusammen mit Angehörigen anderer Minderheiten wie christliche Aramäer, Jesiden, Juden und Turkmenen.
Im Zweiten Irakkrieg kämpfte die Peschmerga an der Seite von US-Truppen. Im Vergleich zum Rest ist die autonome Region aufgrund der Stärke der Peschmerga eine relativ sichere Gegend. Seit der neuen Regierung nach dem Sturz von Saddam Hussein haben sich die Kurden in der autonomen Region weiter organisiert.
Das kurdische «Dubai»
Die Hauptstadt der Autonomieregion, Erbil, ist seither regelrecht erblüht. Die Gegend ist der wichtigste Lieferant für Rohöl in die Türkei. Durch die relativ stabile Lage haben sich internationale Wirtschaftsunternehmen niedergelassen, in den letzten Jahren machte sich ein regelrechter Bauboom bemerkbar. Es wurde bereits vom «neuen Dubai» gesprochen.
Auslandsvertretungen anderer Staaten wurden eröffnet; Erbil ist auch Sitz des Regionalparlaments. Die Zitadelle der Stadt – rund 7000 Jahre alt – wird als älteste durchgehend bewohnte Ortschaft der Welt bezeichnet. Seit 2010 wird sie mithilfe der Unesco restauriert; es sind erste Vorstösse in die Tourismusbranche.
Gekommen um zu bleiben
Im Zuge der vergangenen Wochen hat die Peschmerga das von ihr kontrollierte Gebiet im Nordirak nahezu verdoppeln können. Unter anderem die Militärstützpunkte der irakischen Armee, die diese panikartig unter Eindruck des Anmarsches der Isis-Kämpfer verliessen. Die Peschmerga rückte nach.
Für die Kurden im Irak ist es klar, dass sie diese Gebiete nicht so schnell wieder freiwillig hergeben. «Wir sind gekommen und werden bleiben», liess das kurdische Verteidigungsministerium verlauten.
Besonders die Gegend um Kirkuk ist nicht nur als riesiges Ölfeld für jeden wertvoll, der die Kontrolle darüber hat. Die kurdische Bevölkerung sieht Kirkuk als die Wiege ihres Volkes an – sie nennen die Stadt auch «das Jerusalem der Kurden».
Bald ein eigener Staat?
Für die mehrheitlich sunnitischen Kurden rückt der lang gehegte Traum eines unabhängigen, eigenen Staates nun in greifbare Nähe. Weltweit gibt es schätzungsweise rund 30 bis 38 Millionen Menschen kurdischer Herkunft; die meisten davon leben in der Türkei.
Im irakischen Chaos, das durch das brutale Vorgehen der Isis-Miliz entstanden ist, keimt neue Hoffnung für die kurdische Bevölkerung auf: So stark, dass längst pensionierte Peschmerga-Kämpfer nun wieder zu den Waffen greifen – für ihren Traum eines «richtigen Kurdistans».