SRF: Dominique Reynié, der Front National von Marine Le Pen erhält bei französischen Wählern besonders hohe Zustimmung beim Thema Einwanderung und Ausländerpolitik. Im Zuge der Flüchtlingskrise haben auch alle anderen Parteien dieses Thema aufgenommen. Warum bleibt es ein Kernthema des Front National?
Dominique Reynié: Die traditionellen Parteien haben während Jahren einen grossen Bogen um dieses politisch sensible Thema gemacht, namentlich die Linke. Der Front National hatte ein leichtes Spiel, ein politisches Monopol bei diesem Thema zu etablieren. Innerhalb der Partei des Front National gibt es unterschiedliche Strömungen und Meinungen. Es fällt aber auf, dass die Partei bei der Ablehnung der Einwanderung ideologisch völlig geschlossen ist. Das macht den Front National in den Augen vieler Wähler besonders glaubwürdig.
Die Rezepte des Front National im Kampf gegen die Einwanderung in Frankreich seien populistisch, warnen politische Gegner. Warnen sie zu Recht?
Alle Formen des Populismus prägen aktuell in Frankreich und in anderen Ländern Europas die politische Debatte. Der rechte Populismus des Front National ist besonders erfolgreich, weil er nicht nur ganz allgemein zwischen Volk und Eliten unterscheidet, sondern das einheimische, französische Volk jenen gegenüberstellt, die nicht von hier sind, also die Einwanderer. Der linke Populismus ist in der Regel nicht fremdenfeindlich. Deshalb ist er viel weniger erfolgreich; er erreicht in Wahlen einen Wähleranteil von zehn bis 15 Prozent. Der Front National erreicht viel höhere Zustimmungswerte von 30 Prozent oder mehr.
Marine Le Pen, die Präsidentin der Partei, hat beste Chancen, den zweiten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahlen zu erreichen. Wie erklären Sie ihren Erfolg in Meinungsumfragen?
Der Front National verspricht der französischen Bevölkerung eine mehrfache Abschottung: eine soziale Abschottung vor dem liberalen Europa, eine geografische Abschottung vor offenen Grenzen und sogar eine ethnische Abschottung vor dem Islamismus.
Ich bezeichne das als Heimat-Populismus oder patriotischen Populismus: Er verteidigt das nationale, historische Erbe sowohl in materieller Hinsicht, also den Lebensstandard, als auch das kulturelle Erbe, also den Lebensstil in diesem Land. Mit diesem Versprechen können sich alle sozialen Schichten identifizieren, Leute mit tiefen Einkommen, der Mittelstand und sogar Intellektuelle.
Sie bezeichnen den rechten Populismus als gefährlich für die französische Demokratie. Weshalb?
Rechte Populisten bieten keine besseren politischen Lösungen an als alle anderen Parteien. Populistische Politik zielt nicht darauf ab, Verantwortung zu übernehmen und sich dann dem Urteil der Wähler zu stellen. Populisten werben nicht für ein Reformprojekt, sondern für einen Bruch mit der aktuellen politischen Ordnung.
Scheitern die rechten Populisten, dann werden sie nicht sagen, sie hätten politische Fehler gemacht, sondern sie werden sagen, dass die mächtigen Eliten sie daran gehindert hätten, Erfolg zu haben. Das ist ein zentraler Unterscheid. Der Ideologie der rechten Populisten folgend, bleibt dann nämlich nur noch der Rückgriff auf einen autoritären Staat. Darum ist dieser meiner Meinung nach gefährlicher als alle anderen Formen des Populismus.
Das Gespräch führte SRF-Frankreichkorrespondent Charles Liebherr.