SRF: Das selbsternannte Kalifat «Islamischer Staat» IS breitet sich in Syrien und im Irak immer weiter aus, mittlerweile umfasst das vom IS kontrollierte Gebiet etwa die Fläche Grossbritanniens. Wie mächtig ist diese Organisation tatsächlich?
Reinhard Schulze: Sie muss tatsächlich sehr mächtig sein, wenn es ihr gelingt, mit 30'000 Kämpfern eine Region zu kontrollieren, in der fast neun Millionen Menschen leben. Die Macht, welche der IS ausübt, ist auch strukturell gewaltig und sehr durchsetzungsfähig. Das betrifft vor allem die mittelgrossen Städte entlang des Euphrat und des Tigris, in denen sich der IS festgesetzt hat.
Die IS-Terrormilizen haben es geschafft, sich in einem grossen Gebiet in kurzer Zeit stark auszubreiten. Wie ist der IS organisiert?
Der IS funktioniert sehr hierarchisch. An der Spitze der Machtpyramide stehen die alten sunnitisch-irakischen Widerstandskämpfer, welche seit 2003 gegen die Amerikaner gekämpft hatten. Sie sind sehr gut ausgebildet und bewaffnet. Die eigentlichen Handlanger vor Ort sind dagegen meist Leute, die nicht aus dem Irak und aus Syrien kommen. Sie üben die Vollzugsgewalt vor Ort aus, auch die Gräueltaten, welche man inzwischen aus den Medien kennt.
Wie schafft es der IS, dass sich ganze Armeen – so etwa jene Iraks – von ihm einschüchtern lassen und sich entweder zurückziehen oder sich ihm anschliessen?
Die IS-Terrormilizen demoralisieren ihre Gegner indem sie klar machen, dass es keine Gefangenen gibt. Wer riskiert schon sein Leben im Wissen, dass ihm die Kehle durchgeschnitten wird, sollte er in die Hände des IS fallen? Hinzu kommt, dass viele irakische und syrische Soldaten nicht mehr wissen, wofür sie eigentlich kämpfen. Bei den Kurden ist es etwas anders, sie sind daran, eine eigene Staatlichkeit zu etablieren und daher auch eher bereit, ihr Leben aufs Spiel zu setzen.
Seit Juni nennt sich der IS selber Kalifat. Kann man bereits von einem eigentlichen Staat sprechen, welchen die Extremisten in Syrien und im Irak etabliert haben?
Sicher nicht im Sinne eines Nationalstaats. Was versucht wird, ist eine Art Polizeistaat durchzusetzen. Bei typischen Staatsaufgaben wie Infrastruktur- oder Bildungsmassnahmen ist der IS aber weit von einem typischen Staat entfernt. Daneben gibt es auch kleinere Einheiten innerhalb des IS, die zum Beispiel versuchen, Lebensmittel zu verteilen oder der Familie eines Kämpfers ein Haus oder ein Auto zu besorgen. Diese sogenannten Sozialmassnahmen waren am Anfang noch stärker, als sie jetzt sind.
Man muss sich präventiv mit dem Problem befassen und fragen: Was bringt Menschen dazu, mit ihren Familien zu brechen und in den Krieg zu ziehen?
Wieso?
Ich vermute, dass dem IS die Ressourcen dafür langsam ausgehen. Das wird dazu führen, dass seine Kämpfer enttäuscht sein werden und vielleicht wieder aus den Terror-Milizen austreten. Es gibt ja schon heute ehemalige Dschihadisten, die sagen, es sei ein Fehler gewesen, für den IS gekämpft zu haben. Der IS muss dafür sorgen, dass er seine Kämpfer bei der Stange halten kann. Das wird er auf Dauer ohne eine gute finanzielle Lage nicht machen können.
Ist die Haupt-Einnahmequelle des IS nach wie vor Erdöl oder spielen andere Faktoren eine Rolle?
Inzwischen dürfte die Hauptquelle wohl das Eintreiben von Schutzgeldern sein. Dieses wird lokalen Händlern und Stammesführern abgepresst. Mit dem Geld kann der der IS gleichzeitig seine sozialen Bindungen aufbauen und verstärken, weil er Grunde wie eine Mafia funktioniert. Als Folge davon vermutet man, dass seit einigen Wochen die Loyalität mit dem IS in den von ihm beherrschten Gebieten abnimmt.
Welche Massnahmen braucht es, damit sich nicht immer mehr junge Männer und Frauen aus Europa den IS-Terroristen anschliessen?
Repression ist sicher nicht angebracht. Dadurch wird überhaupt nichts gewonnen, ausser dass ein, zwei Kämpfer daran gehindert werden, ins Konfliktgebiet zu reisen. Das Problem löst man damit nicht. Vielmehr muss man sich präventiv mit dem Problem befassen und fragen: Was bringt Menschen dazu, mit ihren Familien zu brechen und in den Krieg zu ziehen? Meist handelt es sich um Leute, die dem Konkurrenzdruck nicht standhalten und derart stark von ihrer Lebensperspektive enttäuscht und ohne Hoffnung sind, dass sie sich gegen das wenden, was sie – etwa wegen mangelnder Ausbildung – nicht erreichen können.
Wie schätzen sie das Eingreifen des Westens unter Führung der USA ein, welcher mit Luftangriffen versucht, die IS-Milizen zurückzudrängen?
Das Eingreifen der Amerikaner ist im Moment eine Verlegenheitslösung, weil der Westen zeigen muss, dass er irgend etwas gegen den IS unternimmt. Wenn man sieht, wie wenig effektiv das Ganze ist, muss man sich fragen, ob dies die adäquate Strategie ist, denn der IS kann tatsächlich nur mit Bodentruppen bekämpft werden. Weil die USA wohl kaum je wieder Bodentruppen in diese Region schicken werden, sind eher die regionalen Mächte – Türkei, Saudi-Arabien, die Emirate – gefragt, einzugreifen. Dadurch würde auch deutlich, dass diese Länder eine der Ursachen für die heutige Situation sind und eine Verantwortung dafür haben, was derzeit geschieht. Das Problem wird sich nicht von selbst erledigen. Deshalb müssen die nahöstlichen Regionalmächte gemeinsam überlegen, wie sie dieses Gespenst der marodierenden Dschihadisten wieder loswerden.