SRF: Gab es denn für die Machtübernahme in Syrien einen regelrechten Masterplan?
Christoph Reuter: Ja den gab es. Wir waren auch überrascht, dass diese Pläne so detailliert waren. Von der schleichenden Unterwanderung der sehr anarchischen Landschaft Nordsyriens, bis hin zur Phase geheimer Ermordungen und Entführungen und erst später zur Phase der offenen Grausamkeit, die wir aus den Videos kennen.
SRF: Zentraler strategischer Kopf war der Anfang Jahr ermordete Haji Bakr. Er war ein ehemaliger irakischer Geheimdienstoberst der Luftabwehr, der sich nach dem Sturz von Saddam Hussein dem IS angeschlossen hat. Was war denn sein Beweggrund?
Einziger Beweggrund ist für ihn – wie für die ganze Bewegung – Machterweiterung und letzten Endes einen neuen Staat zu errichten, eine Diktatur im Namen Gottes. Diese wird aber genauso beherrscht, wie er es gelernt hat in den Jahrzehnten in denen er in Saddams Geheimdiensten gearbeitet hat.
SRF: Die IS-Terroristen haben in fast atemberaubendem Tempo Teilgebiete von Syrien destabilisiert und erobert. Gab es dafür ein konkretes Erfolgsrezept oder ein Vorgehensmuster?
Ja es gab einen mehrgliedrigen Plan. Es ging darum erst einmal in Nordsyrien Fuss zu fassen, wo lauter lokale Räte und Rebellengruppen herrschten und es keine zentrale Ordnung mehr gab. Dies wurde interessanterweise zum Grossteil mit Ausländern und lokalen angeheurten Spionen umgesetzt werden, die unter dem Deckmäntelchen von Predigern auftraten. Sie sollten in Erfahrung bringen: Welche Familien haben macht? Wer besitzt was? Wer ist erpressbar, weil er schwul ist, weil er kriminelle Akte begangen hat oder weil er eine Affäre hat? Wer ist Demokrat? Wer ist wichtig? Es galt diese Leute entweder auf seine eigene Seite zu ziehen, oder was häufiger geschah, sie spurlos verschwinden zu lassen. Wenn man wusste, wie das detaillierte Weichbild eines Dorfes, einer Stadt aussah, dann ging man erst daran einzelne Rebellengruppen auszuschalten, während man mit anderen geheime Abkommen aushandelte. Es ging also darum Schritt für Schritt die Macht in einem Ort zu gewinnen und erst dann offen aufzutreten.
SRF: Spionage, Überwachung, Morde zur Einschüchterung. Das sind klassische Geheimdienstmethoden. Spielte denn der religiöse Fanatismus bei Haji Bakr überhaupt keine Rolle?
Doch, es spielt eine sehr wichtige Rolle, aber nicht als Ziel. Der religiöse Fanatismus dient eher als Werkzeug – als Mittel, das man benutzen kann. Zum einen in dem man alle anreisenden ausländischen Radikalen bei sich aufnimmt, die bereit sind zu kämpfen und sich zu opfern. Zum anderen, um allen die gegen diese Macht opponieren, sagen zu können: «Das dürft ihr nicht, wir sind Gottes Stellvertreter. Wenn ihr gegen uns seid, seid ihr Ungläubige und nach Seite so und so im Koran, oder einer prophetischen Überlieferung müsst ihr hingerichtet werden.»
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SRF: Das heisst unter dem Strich, dass der religiöse Führer Abu Bakr al-Bagdadi eine Art Mittel zum Zweck, eine blosse Marionette war?
Nein, er ist keine blosse Marionette. Er war auch vorher schon eine Figur im erweiterten Führungskreis des Islamischen Staates. Er wurde wie ein Posterboy nach vorne gestellt, weil er so ziemlich der einzige aus der Führungsriege war, der überhaupt eine religiöse Ausbildung hatte. Er ist der einzige Geistliche, den der IS an die Öffentlichkeit stellen kann. Man kann ja schlecht einen ehemaligen Befehlshaber der Special Forces, einen Oberst der Luftabwehr, oder einen Oberst des allgemeinen Geheimdienstes an die Spitze einer islamistischen Bewegung stellen. Eine Marionette ist er nicht, aber gleichzeitig ist er auch nicht derjenige, der das alleinige Kommando inne hat und die Fäden zieht.