SRF News Online: Herr Tilgner, denkt man an den Irak-Krieg, erinnert man sich zunächst an die Nachtbilder des Angriffs auf Bagdad. Sie haben die Bombardements hautnah erlebt. Wie muss man sich das vorstellen?
Ulrich Tilgner: Die Bilder der Angriffe aus den ersten Tagen haben den Eindruck eines Infernos vermittelt. So war es aber nicht. Es wurden immer nur besondere Ziele in Bagdad bombardiert. In anderen Teilen ging das Leben einfach seinen gewohnten, wenn auch eingeschränkten Gang. Allgegenwärtig war aber der Qualm über Bagdad. Die Iraker hatten Öl entzündet, um Angriffsziele für die US-Armee zu verschleiern. Ohne Erfolg. Wir hatten tagelang greizte Augen.
Die Angriffe erfolgten in Wellen, es wurde eine halbe Stunde bombardiert, dann war es wieder ruhig. Zumeist geschah das in den Abendstunden, zur besten Sendezeit. Die Zahl der getöteten Zivilisten war zu Anfang nicht so hoch.
Hatten Sie nie Angst um Ihr Leben?
Eigentlich weniger, denn ich habe immer auf die Genauigkeit der US-Angriffe gesetzt und gedacht, Journalisten würden nicht beschossen. Ich wurde dann im Hotel in Bagdad eines Besseren belehrt, als ein US-Panzer am 8. April 2003 das Hotel beschoss. Zwei Kameraleute wurden getötet. Hinterher wurden die Journalisten in einem Untersuchungsbericht der US-Armee sogar dafür verantwortlich gemacht. Das zeigt, wie hilflos die Soldaten agierten. Sie hatten auf Balkonen des Hotels etwas gesehen – die Kameras – und dann darauf geschossen.
An solchen Geschehnissen kann man erkennen, dass es doch gefährlicher war, als es im ersten Moment zu sein schien. Denn die Raketenangriffe in den Anfangstagen eines Krieges sind sehr genau. Das böse Gesicht des Krieges kommt immer später. Dann, wenn die Truppen vorrücken, wenn es Gefechte gibt, wenn Flugzeuge angreifen. Dann trifft es imm öfter Zivilisten.
Erinnern Sie sich an ein besonders einschneidendes Erlebnis?
Das war sechs Tage vor dem Angriff auf das Hotel in der Stadt Hilla. Dort habe ich ein Krankenhaus besucht, in dem Bauern behandelt wurden. Sie waren von amerikanischen Splitterbomben getroffen worden. Ich erfuhr dort, dass die Bevölkerung gar nicht gegen die USA kämpfen wollte. Und das war für mich ein wahnsinniges Erlebnis. Es war das erste Mal, dass ich diese organisierte Kriegsführung der USA für mich grundsätzlich in Frage stellte. Da waren unschuldige Bauern bei der Arbeit auf ihren Feldern getroffen worden. Ich fragte damals Taxifahrer vor dem Spital: Was wollt ihr nun tun? Sie zuckten nur mit den Schultern und sagten: der Krieg ist ja nicht unsere Sache. Die irakische Bevölkerung beteiligte sich in dieser Phase gar nicht am Krieg. Für mich war wichtig, dass die Menschen auch fernab von Bagdad so dachten.
Der Irak-Krieg war ja auch ein medialer Krieg – mit eingebetteten Journalisten. Wie kamen Sie dennoch an unabhängige Informationen?
Das war sehr schwierig, weil natürlich beide Seiten enorme Propaganda betrieben. Ich erinnere mich sehr genau daran, dass mir irakische Offizielle hinter vorgehaltener Hand verkündeten: Wir haben schon dutzende amerikanische Soldaten gefangen genommen. Die amerikanischen Generäle ihrerseits haben auf Pressekonferenzen, die weltweit übertragen wurden, völlig andere Kriegsschritte genannt, als dann tatsächlich ausgeführt wurden. Es wurde ein Verwirrspiel auf allen Seiten betrieben. Da war es schwierig an gesicherte Informationen zu gelangen. Die Einbettung selbst, also wenn sie mit Soldaten unterwegs sind, sehe ich als Teil der Berichterstattung. Man kann sich als Sender aber natürlich nicht darauf beschränken und nur diese organisierten Bilder zeigen, dann wird es bedenklich.
Die USA bezeichnen die Mission im Irak offiziell als abgeschlossen. 2011 zogen die US-Truppen ab. Wie sieht Ihre Bilanz nach acht Jahren Besetzung aus?
Das einzig Positive: Saddam Hussein wurde gestürzt. Aber: Die USA leiden finanziell bis heute unter dem Krieg, die irakische Bevölkerung hat 130'000 Tote zu beklagen, vier Millionen Iraker wurden vertrieben, 4800 US-Soldaten getötet. Das ganze Land ist durch diesen Krieg und die anschliessende Besetzung völlig destabilisiert worden.
Die US-Regierung hat die Probleme völlig unterschätzt. Der Widerstand aus der Bevölkerung wuchs relativ schnell. Das Scheitern begann damit, dass die US-Zivilverwaltung die irakischen Streitkräfte auflöste. Dies konnten die ehemaligen Kader des von Saddam Hussein geschaffenen Systems ausnutzen, um eine gewaltige Unordnung im Irak zu verbreiten. Die Anschläge und die Unterstützung der Al-Kaida waren die Folge. Saddam Hussein hatte vor dem Irak-Krieg nichts mit der Terrororganisation zu tun. Die Untergrundopposition seiner Anhänger hat dann aber ein Bündnis mit der Al-Kaida geschlossen, um gegen die US-Truppen zu kämpfen. Heute ist der Irak politisch stark unter den Einfluss des Iran geraten. Die Amerikaner haben das Land verlassen und einen Scherbenhaufen hinterlassen.
Was sagen die Iraker zum Irak-Krieg?
Die Iraker sind geteilter Meinung. Viele halten den Krieg für eine Katastrophe, freuen sich jedoch, dass Saddam Hussein beseitigt wurde. Das finden sehr viele gut. Die Kurden sind froh. Die Schiiten sind zufrieden. Die Sunniten weinen Saddam Hussein in Teilen jedoch noch nach, weil sie sagen: Es ist alles nur noch schlimmer geworden.
Der Irak ist zwar Saddam Hussein los, Vetternwirtschaft und Korruption sind aber weit verbreitet. Schiiten und Sunniten bekämpfen sich offen. Die heutigen Verhältnisse lassen sich höchstens als «Quasi-Demokratie» bezeichnen. Wie wird es im Irak weitergehen?
Der Irak ist wohl das korrupteste Land der Welt. Milliarden aus dem Ölgeschäft versickern einfach. Das hat es in der Zeit von Saddam Hussein nicht gegeben. Die Zukunft des Zweistromlandes ist völlig ungewiss. Der Irak driftet in drei Teile auseinander. Da wären zum einen die Sunnitenregionen. Dort wird die schiitendominierte Regierung abgelehnt – derzeit mit grossen Demonstrationen. Dann wäre da die quasi-selbstständige Kurdenregion im Nordosten des Landes. Und die Schiitengebiete in den alten Ballungsräumen zwischen Euphrat und Tigris bis an den Persischen Golf. Dort lebt die Mehrheit der Bevölkerung. Diese drei Teile haben es noch nicht geschafft, ein gemeinsames Konzept für einen Neuaufbau zu entwickeln. Und dieses Konzept wäre dringend notwendig. Aber ich sehe bisher keine Einigung. Mittelfristig wird der Irak ein instabiles Land bleiben.