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International «Die Franzosen wollen mit dem FN etwas Neues ausprobieren»

Der Sieg der Front National bei den Regionalwahlen sei vor allem ein Protest der Bevölkerung gegen die Bürgerlichen und die amtierenden Sozialisten, sagt ein Europakenner. Die Protestwähler würden hoffen, mit den Rechtsextremen an der Macht aus der Krise zu kommen – vergeblich.

Die Rechtsextremen von Marine Le Pens Front National haben den ersten Wahlgang in Frankreich mit 28 Prozent der Stimmen klar gewonnen. Sie verweisen die bürgerlichen Republikaner von Ex-Präsident Sarkozy auf Platz zwei und die Sozialisten des amtierenden französischen Staatspräsidenten François Hollande auf Platz drei.

SRF: Die Rechtsextremen vom Front National holen am meisten Stimmen: Ist das die Folge der Anschläge von Paris?

Gilbert Casasus

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Porträt eines Mannes

Der schweizerisch-französische Doppelbürger ist in Bern und Lyon aufgewachsen. Studiert hat Casasus Politikwissenschaft, Germanistik, Geschichte und Öffentliches Recht. Seit 2008 ist er Professor für Europastudien an der Universität Freiburg i.Ü .

Gilbert Casasus: Nicht nur, aber es hat natürlich dazu beigetragen. Es handelt sich um einen Prozess, der seit Jahren läuft. Man sieht eindeutig, dass es dem Land nicht gut geht, dass das Vertrauen in die Politik und in die Wirtschaft schnell schwindet, dass die Reformen nur langsam vorankommen. Ein Teil der französischen Bevölkerung ist der Meinung, dass er unter den Bürgerlichen in der Krise gewesen sei und es keine Lösung gegeben habe und dasselbe passiere jetzt unter den Sozialisten.

Der Sieg der FN ist ein Protest der Bevölkerung. Aber die Leute wollen auch etwas Neues ausprobieren, ohne zu wissen, was das Neue bedeutet. Das ist die Gefahr. Sie hoffen, so aus der Krise herauszukommen, was sich sicherlich als falsch erweisen wird.

Die Beliebtheit von Staatspräsident Hollande hat nach den Anschlägen von Paris markant zugenommen. Weshalb schneiden die Sozialisten jetzt nicht besser ab?

Das sind zwei Paar Schuhe. Der Fortschritt in den Umfragen zugunsten von Hollande ist ein Plus zugunsten des Staatschefs. Ein Mann, der versucht, die Nation von Terrorismus zu schützen. Andererseits ist das Ergebnis der Sozialisten gar nicht so niederschmetternd. Sie haben knapp 24 Prozent erreicht. Damit schneiden sie besser ab als bei den Departementswahlen.

Der grosse Verlierer der gestrigen Wahl sind die Republikaner, die konservativen Bürgerlichen, unter Sarkozy.

Blicken wir auf den zweiten Wahlgang kommende Woche. Werden sich die Rechtsextremen in verschiedenen Regionen durchsetzen können?

In drei bis vier Regionen scheint dies möglich. Die Bürgerlichen hingegen werden zwei bis drei Regionen dazugewinnen. Sie erwarteten mehr. Es gibt aber auch Regionen, wo noch alles offen ist und sich auf Messers Schneide abspielt, etwa in der Region Languedoc-Roussillon im Süden Frankreichs.

In zwei Regionen, Nord-Pas-de-Calais-Picardie, und Provence-Alpes-Côte d'Azur ziehen sich die Sozialisten zurück, um einen Wahlsieg von Marine Le Pen und ihrer Nichte Marion Maréchal Le Pen zu verhindern. Wird das gelingen?

Der Rückzug der Sozialisten wird den Erfolg der FN nicht verhindern können. Aber das geht auf das Konto der Sozialisten und der Bürgerlichen. Ich kenne eine Stadt in Südfrankreich, wo eine Abgeordnete, eine Sozialistin, überhaupt nichts gegen den FN macht. Die kommunistische Zeitung

«L' Humanité» hat geschrieben, man habe viel zu lange strategisch mit der FN gespielt. Das aktuelle Ergebnis ist nun ein Bumerang für die Bürgerlichen und die linken Parteien.

Ich denke, es wäre an der Zeit, dass die Sozialisten und Bürgerlichen endlich begreifen, dass Politik nicht ein Spiel ist und dass man mit Rechtsextremismus nicht spielen kann.

Ich denke, es wäre an der Zeit, dass die Sozialisten und Bürgerlichen endlich begreifen, dass Politik nicht ein Spiel ist und dass man mit Rechtsextremismus nicht spielen kann. Jetzt kommt die Rechnung, die lautet: Wir haben solange mit diesem Spielball gespielt, dass er sich nun als wichtigster Spieler hervortun kann. Und das ist schlimm.

Was heisst das für die Präsidentschaftswahlen in rund anderthalb Jahren – hat Marine Le Pen ernsthafte Chancen auf das Präsidentschaftsamt?

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Chancen hat sie. Aber die zentrale Frage wird sein, wer der Kandidat der Bürgerlichen wird. Sarkozy hat eben eine Schlappe eingefangen. Alain Juppé, der amtierende Bürgermeister von Bordeaux und ehemaliger Premierminister von Chirac, kann sich somit profilieren.

Hollande sollte man noch nicht abschreiben. Hollande kann vielleicht die Rolle des Retters der Nation spielen, wie er es nun nach den Attentaten getan hat.

Es könnte ähnlich kommen wie bei den Wahlen 2002, als Vater Le Pen im zweiten Wahlgang gegen den Bürgerlichen Jacques Chirac antrat. Und das würde bedeuten, dass die Sozialisten Sarkozy zu einem Comeback verhelfen müssten, um Marine Le Pen im Elysée zu verhindern?

Das ist eine Gretchenfrage. Wenn es zu einem Duell zwischen Sarkozy und Le Pen käme, besteht tatsächlich die Gefahr, dass Le Pen die erste französische Präsidentin wird. Die Linken sind nicht bereit, Sarkozy zu wählen. Er hat gestern meiner Meinung nach zudem einen strategischen Fehler gemacht.

Er sagte, dass sie weder Le Pen noch die Linken wählen würden. Das heisst, sie sind nicht bereit, ein Bündnis zwischen Bürgerlichen und Linken zu unterstützen. Das ist sehr gewagt und kann sich rächen. Sarkozy spielt mit dem Feuer und in der aktuellen Lage in Frankreich sollte man nicht mit Streichhölzern hantieren.

Die Linken sind nicht bereit, Sarkozy zu wählen.

Sollte hingegen Juppé der bürgerliche Präsidentschaftskandidat sein, gehe ich davon aus, dass ein Teil der Linken und der Sozialisten für ihn stimmen werden.

Das Gespräch führte Hans Ineichen.

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