SRF: Die Kurden sind in Syrien und im Irak schon länger unter Druck. Wieso manifestiert sich die Empörung auf der Strasse gerade jetzt?
Gülistan Gürbey: Dass die Wut der Kurden eskaliert ist, hängt damit zusammen, dass die Türkei ihre politische Strategie, was Kobane betrifft, geändert hat. Seit der Freilassung der 49 türkischen Geiseln [aus dem Gewahrsam des IS Ende September; Anm. d.Redaktion] spricht die Türkei offiziell von der Errichtung einer Pufferzone an der syrisch-türkischen Grenze. Dies hat zu dem Wutausbruch unter den Kurden geführt. Sie empfinden die türkischen Pläne als politischen Angriff auf Kobane mit dem Ziel, die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien zu zerstören.
Ist es denn nicht besser, wenn die Türkei in Kobane die Kontrolle hat, als dass die Kurden dort von den IS-Terroristen niedergemetzelt werden?
Die Kurden wollen weder das eine noch das andere. Kobane hat eine symbolische und auch psychologische Bedeutung für sie. Die Kurden betrachten diese Selbstverwaltungseinheit als eine historische Errungenschaft. Jede Strategie, welche die Zerstörung der Autonomiegebiete zur Folge haben könnte, wird vehement abgelehnt; deshalb diese heftigen Reaktionen. Tatsächlich ist unklar, was die Türkei beabsichtigt: Einerseits führt sie mit dem inhaftierten PKK-Führer Öcalan Friedensverhandlungen, andererseits nennt Präsident Erdogan die PKK eine Terroristenorganisation, die ebenso zerstört werden müsse, wie der IS.
Die Gewalt ist die Folge eines ungelösten politischen Konflikts.
Nicht nur in der Türkei gehen die Kurden auf die Strasse, sondern in ganz Europa – besonders in Deutschland. Ist dafür ebenfalls die Angst vor dem Fall Kobanes der Grund?
Einerseits wird befürchtet, Kobane könnte in die Hände der radikalen Islamisten fallen. Ebenso wütend macht die Kurden aber auch die Ohnmacht, von der internationalen Staatengemeinschaft alleine gelassen zu werden.
In Hamburg und anderen Städten kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Kurden und Islamisten – Findet ein Stellvertreterkrieg statt?
Wir erleben im Moment die Nachbeben dieser Kriegseskalation in Kobane. Auch in der Türkei ist die Gefahr vorhanden, dass alles ausser Kontrolle geraten kann. Deshalb sind die Auswirkungen auch in jenen europäischen Ländern spürbar, in denen Türken und Kurden leben.
Aber Gewalt bringt die kurdische Sache ja auch nicht weiter...
Natürlich nicht. Doch diese Ohnmachtssituation der Kurden, in der internationalen Politik immer wieder fallen gelassen zu werden, führt dazu, dass Gewalt als Mittel mit den Protesten einhergeht. Die Gewalt ist die Folge eines ungelösten politischen Konflikts, der historisch tief verwurzelt ist.
Kann diese Bedrohungssituation dazu führen, dass sich die bis anhin teilweise zerstrittenen Kurden nun wieder zusammenraufen und hinter die PKK stellen?
Zwar sind ad hoc entstehende Bündnisse aufgrund akuter Bedrohungssituationen nicht auszuschliessen. Doch sie sind kein Anzeichen für die Entstehung oder Errichtung eines Gross-Kurdistans. Die machtpolitischen Unterschiede, etwa zwischen der PKK und den irakischen Kurden, sind nach wie vor sehr gross.
Das Interview führte Samuel Burri.