SRF News: Erlebt Zentralamerika derzeit eine Art «lateinamerikanischen Frühling»?
Sandra Weiss: So etwas Ähnliches. Begonnen hat es 2011 in Chile mit den Studentenprotesten. Weiter ging es im Juni 2011 in Brasilien und jetzt folgen in Mittelamerika Honduras und Guatemala. Hintergrund der Proteste in all diesen Ländern sind strukturelle Veränderungen in der Gesellschaft: Die Bevölkerung hat vom Boom der letzten zehn Jahre stark profitiert, Bildungs- und Lebensstandard haben sich verbessert. Und jetzt sind die Menschen nicht mehr bereit, Korruption, Vetternwirtschaft und Straffreiheit von Politikern hinzunehmen.
Was war denn die Initialzündung für die Proteste?
Das ist unterschiedlich. In Guatemala und Honduras sind das Korruptionsfälle, in die ranghohe Politiker und Beamte verstrickt sind. In Chile war es das privatisierte Bildungssystem, in Brasilien die Verschwendung wegen der Fussball-Weltmeisterschaft.
Doch überall war das jeweils nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Denn in all diesen Ländern hat sich die Politik von den Bürgern entfernt und sich eher in den Dienst privater Unternehmen gestellt. Dabei wurde stets auch heftig in die eigene Tasche gewirtschaftet. Jetzt sind die Menschen nicht mehr gewillt, dies hinzunehmen. Sie fordern mehr Transparenz, Rechenschaft, Bürgernähe und Effizienz von ihren Politikern.
Interessant ist, dass die Proteste vor allem von jungen Leuten ausgehen – nachdem man gedacht hat, die Jungen seien an Politik gar nicht mehr interessiert. Sie organisieren sich über soziale Netzwerke und trommeln die Menschen zusammen. Ich sehe hier durchaus einen globalen Trend: Auch in Spanien oder Portugal haben wir ja Ähnliches gesehen.
Die Politiker sind aufgeschreckt und haben gemerkt, dass sie Rechenschaft schuldig sind.
Was haben die seit Monaten andauernden Proteste in Honduras und Guatemala bisher bewirkt?
Guatemalas Vizepräsidentin – sie war direkt in den Korruptionsskandal verstrickt – sowie der Innenminister mussten zurücktreten. Ansonsten hat sich in den beiden Ländern kurzfristig wenig geändert. Honduras und Guatemala gehören zu den gewalttätigsten, korruptesten und rückständigsten Staaten Lateinamerikas. Zehntausende Bürger nehmen jedes Jahr den gefährlichen Weg via Mexiko in Richtung USA unter die Füsse und hoffen, dass es ihnen dort dereinst besser ergeht. Die Präsidenten beider Länder klammern sich bislang an ihre Posten und sehen keinen Grund für Veränderungen.
Das tönt alles sehr trist. Gibt es denn keinen Hoffnungsschimmer, dass die Demonstrationen etwas bewirken könnten?
Die positiven Effekte wird man wohl erst mittel- und langfristig bemerken. Die Politiker sind von den Protesten jetzt aufgeschreckt, sie haben gemerkt, dass sie nicht mehr mit allem so einfach davonkommen und vermehrt Rechenschaft schuldig sind. Das ist für die Demokratie mittelfristig positiv.
Es wäre wichtig, dass die internationale Gemeinschaft diesen Prozess unterstützt. So gibt es etwa in Guatemala bereits seit einigen Jahren die sogenannte UNO-Ermittlungskommission gegen Straffreiheit. Sie wurde von der Regierung selber eingerichtet, weil diese den Eindruck hatte, vom organisierten Verbrechen unterlaufen zu sein.
Die Kommission hat inzwischen die Justiz reformiert und auf dem Weg zum Rechtsstaat grosse Fortschritte erreicht. Früher wurde in Guatemala niemals ein wichtiger Politiker oder Unternehmer verurteilt – egal wie korrupt er war oder wie viele Menschenleben er auf dem Gewissen hatte. Das hat sich jetzt geändert: Erstmals stehen nun Minister, Richter, Polizeichefs und sogar ehemalige Staatschefs vor Gericht.
Interessant auch, dass US-Präsident Barack Obama kürzlich auf dem Amerika-Gipfel ebenfalls betont hat, dass Politiker der Gesellschaft Rechenschaft schuldig seien. Das ist eine positive Entwicklung, die auch Europa unterstützen sollte.
Das Interview führte Iwan Santorno