SRF News: Marcel Anderwert, Sie sind seit Tagen im Süden Ungarns, am Grenzzaun zu Serbien, und berichten über den Flüchtlingsstrom. Wie sichtbar sind die Schlepper?
Marcel Anderwert: Die Schlepper sind sehr sichtbar – wenn man weiss, worauf man schauen muss: an grossen Tankstellen, an der Autobahn im Grenzgebiet. Sie sind kaum zu übersehen. Dutzende Männer und Frauen, mit schwarzen Bauchtaschen als Erkennungsmerkmal, sitzen dort herum. Sie telefonieren viel, koordinieren, machen manchmal auf der Raststätte einen Deal.
Ebenfalls gut sichtbar sind jene Schlepper, etwas weiter von der Autobahn entfernt, auf den Strassen zwischen den Dörfern, die nahe am Grenzzaun liegen. Hier gibt es kaum Medien. Die meisten Journalisten stehen beim halboffiziellen Durchgang durch den ungarischen Grenzzaun in Röszke.
Wie erkennt man diese Schlepper? Wie funktioniert ihr System?
Man erkennt sie daran, dass sie am Strassenrand halten und mit Flüchtlingen verhandeln. Sie sind sehr aufmerksam und wollen auf keinen Fall von Fremden beobachtet oder gar gefilmt werden. Oft sind es Frauen. Ob sie aus der Gegend sind, haben wir nicht in Erfahrung bringen können. Auch ist uns verschlossen geblieben, ob sie diesen Job freiwillig machen, um ihren mageren Lohn etwas aufzubessern, oder ob sie von mafiösen Zuhälterringen dazu gezwungen werden.
Den Schlepperinnen und Schleppern geht es darum, mit kleinen Gruppen von Flüchtlingen Kontakt aufzunehmen, um sie ein Stück weit zu fahren. Irgendwo in einem Hinterhof oder Industriegebiet werden die Flüchtlinge dann wohl zusammen gesammelt und in grössere Fahrzeuge verfrachtet. Konkret beobachtet haben wir eine solche Aktion hinter einer Tankstelle am Rand der Stadt Seged. Dabei fällt auf, dass man die selben kleinen Schlepper-PWs im Laufe des Tages immer wieder sieht. Sehr weit können sie die Flüchtlinge also nicht bringen. Was man ferner häufig sieht, sind geschlossene Lieferwagen – ohne Fenster im Laderaum – die etwa an einem Waldrand stehen. Diese Lieferwagen transportieren dann wohl die grösseren Gruppen.
Hat es keine Polizei vor Ort, um die Schlepper zu kontrollieren?
Nein, praktisch nicht. Das ist das absurdeste an der ganzen Situation. Die Dörfer hier haben teilweise ihre eigene Kommunalpolizei. Einen einzelnen solchen Beamten haben wir in seinem Geländewagen merhmals im Wald an der Grenze gesehen. Er hat die Flüchtlingsströme dort beobachtet. Dabei ging es aber höchstens um die Markierung von Präsenz. Auch eine gewisse organisatorische Kooperation mit den Schleppern ist denkbar – im Mindesten aber eine Duldung des schmutzigen Geschäfts.
Und was tut die regionale oder nationale Polizei?
Offizielle Polizei-Patrouillen trifft man zwar ab und zu an – im ‹Dschungel›, wie die Flüchtlinge das bewaldete Grenzgebiet nennen. Die Polizisten stoppen aber vor allem Flüchtlingsgruppen, die nicht rechtzeitig einen Schlepper gefunden oder kein Geld dafür haben. Diese Flüchtlinge bringen sie dann zu einer grossen Wiese, versuchen sie zusammenzuhalten und bringen sie dann irgendwann ins nahegelegene Auffangzentrum von Röszke. Dass die Polizei gegen Schlepper vorgehen würde, haben wir während der ganzen Woche nie beobachtet.
Ein serbischer Schlepper hat mit uns gesprochen, an einer kleinen Tankstelle, im Herzen der Schlepperzone. Er hat uns erzählt, er sei am Vortag von der ungarischen Polizei verhaftet worden. Diese habe ihn bis am Abend ins Gefängnis gesteckt. Dies, weil er einen Flüchtling auf den Bus habe bringen wollen. Er versuchte, sich als Opfer darzustellen und hat beklagt, die ganzen ungarischen Schlepper hier an der Tankstelle würden von der Polizei in Ruhe gelassen. Das mag stimmen – doch der Serbe ist natürlich auch ein Schlepper.
Heisst das, unter den Schleppern gibt es einen Konkurrenzkampf?
Auf jeden Fall. So gross wie diese Woche war der Flüchtlingsstrom noch nie. Jeden Tag wurden über 2000 Flüchtlinge von der Polizei registriert. Wahrscheinlich nochmals so viele wurden illegal von Schleppern empfangen und weiter nach Norden gebracht. Für die Schlepper ist das ein einträgliches Geschäft. Zudem: Weil die serbischen Behörden die Flüchtlinge mit Bussen und Zügen praktisch bis an die Grenze bringen – um sie möglichst schnell wieder loszuwerden – ist der Norden Serbiens für die Schlepper im Moment nicht enorm attraktiv. Das grosse Geschäft läuft hier in Ungarn.
Wie war es für Sie, sich in diesem Gebiet als Journalist zu bewegen?
Mein Kameramann Julien Cassez und ich sind am Freitagmorgen losgefahren, um im Zentrum des Schlepper-Gebiets zu beobachten und zu filmen. Als wir realisierten, dass wir mitten in einer heissen Zone gelandet waren, wurde es uns schon etwas unwohl.
Am Vortag hatten wir in einem Restaurant bei der kleinen Tankstelle nichtsahnend eine Reportage geschnitten. Dann wurde uns plötzlich bewusst: sowohl das Restaurant als auch die Tankstelle sind ein beliebter Schlepper-Treffpunkt. Innerhalb von Stunden hat sich unser Eindruck der Region völlig verändert. Das Bild von überforderten, aber sehr freundlichen und hilfsbereiten Polizisten, die vor den Kameras von CNN Wasser und Sandwiches an die Flüchtlinge verteilen, kam uns plötzlich unwirklich vor. Wir sahen plötzlich überall Anzeichen von Schlepper-Tätigkeit. Und die fest geschlossenen Augen der wenigen Polizisten, am Rand des ‹Dschungels›.
Das Gespräch führte Christine Scherrer