SRF News: Der türkische Premierminister Davutoglu sprach von einem «historischen Tag». Hat die Türkei bei den Verhandlungen mit der EU alles erreicht, was sie wollte?
Thomas Seibert: Die Türkei hat tatsächlich sehr viel von dem erreicht, was sie wollte. Dazu gehört insbesondere die politische Anerkennung als EU-Beitrittskandidatin. So soll es nun wieder regelmässige Spitzentreffen zwischen der EU und der Türkei geben. Das war Ankara sehr wichtig. Das Hauptthema in den türkischen Medien ist heute die ab Oktober kommenden Jahres in Aussicht gestellte Reisefreiheit für türkische Bürger in die EU, denn der derzeit geltende Visumzwang wird als grosses Ärgernis empfunden. Zudem freut sich die türkische Seite über die drei Milliarden Euro, welche die EU-Länder versprochen haben. Allerdings geht die Türkei davon aus, dass dies lediglich ein Anfang ist und danach weiteres Geld aus Brüssel folgt.
In Europa wurde kritisiert, dass man beim Thema Menschenrechte nicht mehr so genau hinschaue, weil man die Hilfe der Türkei jetzt brauche. Ist das in der Türkei ein Thema?
Das ist hier ein grosses Thema. Kurz vor dem Gipfel schrieben zwei namhafte inhaftierte Journalisten einen Brief an die EU zu dieser Frage. Sie forderten Brüssel dazu auf, ihre Prinzipien von Rechtsstaat und Menschenrechten wegen der Flüchtlingskrise nun nicht zu vergessen. Die türkische Regierung ist sich bewusst, dass in diesem Bereich eine grosse Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit besteht. Allerdings ist sie nicht willens, hier irgendwelche Zugeständnisse zu machen. Dies könnte zwischen der EU und der Türkei noch zu Problemen führen.
Hauptthema in der Türkei ist die in Aussicht gestellte Reisefreiheit in die EU.
Die EU und die Türkei führen nun schon seit zehn Jahren Beitrittsverhandlungen. Rechnet man in der Türkei jetzt mit einem spürbaren Fortschritt?
Zwar werden die Verhandlungen mit den Türken noch vor Ende Jahr auf ein weiteres Kapitel ausgedehnt, doch der Sinn der Verhandlungen besteht darin, dass sie ihre Gesetze und ihre Rechtspraxis ändern. Die Türkei soll bei Themen wie Rechtsstaat oder Pressefreiheit europäische Standards anwenden. Das ist mit der momentanen Interessenlage der türkischen Regierung aber überhaupt nicht zu vereinbaren. Deshalb wird wohl vieles von dem, was am Wochenende beschlossen wurde, blosse Absicht bleiben.
Das nun geschlossene Abkommen sieht vor, dass die Türkei von der EU drei Milliarden Euro erhält. Dafür muss sie die Grenzen besser schützen und gegen Schlepper vorgehen. Lässt sich überhaupt überprüfen, ob die Türkei ihren Verpflichtungen nachkommt?
Für die EU gibt es bloss einen Massstab, und der ist sehr wohl überprüfbar: Entscheidend ist, ob weniger Flüchtlinge nach Europa kommen. Wenn das eintrifft, dann gehen die Europäer davon aus, dass die Türken ihren Teil des Deals eingehalten haben; sei dies nun durch bessere Grenzsicherung, den Kampf gegen Schlepper oder eine bessere Perspektive für die Flüchtlinge in der Türkei. Im Detail ist das den Europäern wohl egal. Die EU betont, dass die drei Milliarden Euro nicht einfach so nach Ankara überwiesen werden, sondern für konkrete Projekte aufgewendet werden. Das ist für die Türkei nicht ganz unproblematisch, denn dadurch muss sie sich in ihre eigenen Angelegenheiten reinreden lassen, etwa, was den Bau von Schulen für syrische Flüchtlingskinder oder die Arbeitserlaubnis für Syrer angeht. Für letzteres wären eigentlich Gesetzesänderungen nötig, welche die Türkei auf Druck der EU machen müsste. Ob sie das tatsächlich tut, bezweifle ich.
Ich bezweifle, dass die Türkei ihre Gesetze ändert, damit Syrer im Land arbeiten dürfen.
In der Türkei halten sich rund zwei Millionen Flüchtlinge auf, nur ein kleiner Teil von ihnen wird vom Staat unterstützt. Werden sich die Bedingungen für die Flüchtlinge nach dem Abkommen mit der EU nun verbessern?
Die Türkei muss sich in den nächsten Monaten viele Gedanken dazu machen, wie sie ihre Seite des Handels mit der EU einhalten will. Ab 2016 soll sie ja auch Flüchtlinge aus Europa zurücknehmen, diese Menschen müssen irgendwie versorgt werden. Doch dafür gibt es bislang keine Infrastruktur in der Türkei. Sie muss nun also aus dem Boden gestampft werden. Doch das Nachdenken darüber, wie das geschehen soll, hat noch gar nicht begonnen. Die Türken haben nicht viel Zeit, um ihre Verpflichtungen gegenüber der EU umzusetzen. Denn: gehen die Flüchtlingszahlen in Europa in den nächsten Monaten nicht zurück, ist das Abkommen vom Sonntag gescheitert.
Das Gespräch führte Susanne Schmugge.