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International «Die türkische Armee wird stark geschwächt»

Erdogan verhängt den Ausnahmezustand und regiert die Türkei in den kommenden Monaten quasi im Alleingang. Dabei betont er, es handle sich nicht um das Kriegsrecht und verspricht, die zivilen Grundfreiheiten der Bürger zu schützen. Was ist davon zu halten? Türkei-Kennerin Iren Meier gibt Auskunft.

Iren Meier

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Iren Meier ist SRF-Auslandredaktorin mit dem Spezialgebiet Türkei. Sie war von 2004 bis 2012 Nahost-Korrespondentin und lebte in Beirut. Von 1992 bis 2001 war sie als Osteuropa-Korrespondentin tätig – erst in Prag, dann in Belgrad.

SRF News: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan kann nun per Dekret regieren. Was heisst das in der Praxis?

Iren Meier: Der Präsident kann das Parlament umgehen, und er kann die Grundrechte der Bürger massiv einschränken. So könnten die Versammlungs- und Pressefreiheit ausgesetzt oder eingeschränkt werden. Auch können die Behörden Zensur ausüben oder Ausgangssperren verhängen, ausserdem dürfen die Sicherheitskräfte die Bürger jederzeit kontrollieren.

Die Verhängung des Ausnahmezustands war erwartet worden. Trotzdem: Was sind die Auffälligkeiten an der Ankündigung der türkischen Staatsführung?

Das wichtigste ist, dass Erdogan in seiner Ansprache betonte, dass der Ausnahmezustand nicht Kriegsrecht bedeute. Er sagte das bewusst, denn wenn von Kriegsrecht die Rede ist, denken die Türken an das Jahr 1980, als auf den Militärputsch eine schreckliche Zeit folgte. Erdogan sagte, ihm gehe es darum, die Putschisten zu eliminieren und gleichzeitig die zivilen Grundfreiheiten der Bürger zu schützen. Er nannte sein Vorgehen seit dem Putschversuch ein «Lehrstück in Sachen Demokratie». Die Bürger sollen glauben, Erdogan – ein ziviler Herrscher – beschütze sie vor der Reise in den Abgrund. Interessant ist auch, dass er sich in seiner Rede direkt an seine starke Bürgerbasis in Zentralanatolien wandte. Die Menschen dort sehen in Erdogan seit langem ihren Retter und sie folgen ihm auch kritiklos.

Der Putschversuch war wohl nicht eine Aktion nur einiger weniger Meuterer.

Seit Monaten beobachten wir, wie in der Türkei der Rechtsstaat ausgehöhlt wird, nun versucht die türkische Regierung die Bürger trotz Ausnahmezustands zu beruhigen. Was ist davon zu halten?

Vor allem die kritischen türkischen Bürger werden Erdogan dies nicht abnehmen. So gingen auch die Verhaftungen, Suspendierungen und Entlassungen weiter, während Erdogan den Ausnahmezustand verkündete – man kommt kaum mehr mit, die Zahlen zu addieren. Interessant ist auch, dass er sagte, die Verhaftungen seien nur möglich gewesen, weil man viele Personen schon im Vorfeld beobachtet habe. Es war dies eine indirekte Antwort auf den Vorwurf, es hätte schon vor dem Putschversuch Listen mit unliebsamen Personen existiert.

Erdogan sagte in seiner Rede auch, die Gefahr des Militärputsches sei noch nicht gebannt. Hat er damit recht?

Tatsächlich gibt es immer mehr internationale Beobachter, die sagen, er habe vermutlich recht. Es zeigt sich langsam, dass der Putschversuch nicht die Aktion einiger weniger Meuterer war, sondern dass die Unterstützung in der Armee ziemlich tief geht. Bislang sind über 100 Generäle verhaftet worden, ein Drittel der türkischen Generalität. Auch höchste Militärberater Erdogans und seines Vorgängers Abdullah Gül sollen in den Putsch verwickelt sein. Klar, wir haben nur die Angaben der türkischen Regierung, die wir nicht unabhängig überprüfen können. Trotzdem gibt es viele Anzeichen, dass die türkische Armee – die zweitgrösste Armee der Nato – stark geschwächt wird und dass dort viele Gegner von Präsident Erdogan sitzen.

Die Schwächung der Armee fällt in eine heikle Zeit, denn sie steht ohnehin bereits an mehreren Fronten unter grossem Druck...

Audio
«Die Türken sollen glauben, Erdogan beschütze sie vor dem Absturz in den Abgrund»
aus SRF 4 News aktuell vom 21.07.2016.
abspielen. Laufzeit 5 Minuten 39 Sekunden.

Die Armee muss die sehr lange Grenze zu Syrien bewachen und sie ist im Krieg gegen die PKK und die Kurden stark gefordert. Es stellt sich nun die Frage, was mit der Grenze zu Syrien passiert. Erdogan ist in der Vergangenheit immer wieder vorgeworfen worden, er lasse die Grenze für die islamistischen Extremisten offen. Diese Frage stellt sich nun neu.

Angesichts der offenbar weiterhin bestehenden Gefahr eines Putsches: Ist die Ausrufung des Ausnahmezustands nicht gerechtfertigt?

Man ist allgemein davon ausgegangen, dass Erdogan mit dem Ausnahmezustand reagiert. Wenn es nun tatsächlich so ist, dass der Staat bedroht ist und es einen echten Putsch gegeben hat, ist dies die logische Massnahme. Die Frage ist bloss, was jetzt geschieht – wie Erdogan diese Machtbefugnis interpretieren wird.

Seit dem Putschversuch war auch die Wiedereinführung der Todesstrafe ein Thema. Ist dieses jetzt wieder vom Tisch?

Nein. Erdogan sagte am Mittwochabend, das Thema solle allenfalls im Parlament diskutiert werden. Er äusserte sich allerdings auffallend zurückhaltend, was mit den Reaktionen der EU zu tun haben könnte. Europäische Politiker gaben der Türkei ja klar zu verstehen, dass die Verhandlungen über einen EU-Beitritt abgebrochen würden, sollte die Türkei die Todesstrafe wieder einführen.

Das Gespräch führte Melanie Pfändler.

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