In den frühen Morgenstunden fängt eine Hundertschaft bewaffneter Kämpfer nahe der kenianisch-somalischen Grenze einen Überlandbus mit 60 Passagieren ab. Die Reisenden, die vom Bezirk Mandera auf dem Weg in die kenianische Hauptstadt Nairobi sind, werden aufgefordert, Verse aus dem Koran vorzulesen. Wer dies nicht schafft, gilt als «Ungläubiger» – und bezahlt dafür mit dem Leben. Das traurige Verdikt: 28 Tote. Wenige Stunden später bekennt sich Al-Shabaab zum Anschlag. Der radikal-islamischen Miliz werden Verbindungen zur Al Kaida nachgesagt.
Die zynische Gräueltat bezeichnet ihr Sprecher als «Vergeltung für die Schändung von Moscheen, Tötungen und Verhaftungen von Muslimen in Kenia». Damit machte die Terrormiliz ihr «Versprechen» wahr, den Krieg zurück nach Kenia zu bringen, führt Patrik Wülser aus.
Der Terror fällt auf fruchtbaren Boden
So grausam die barbarischen Akte, darunter auch der Anschlag auf das Westgate-Einkaufszentrum in Nairobi von 2013 mit 67 Toten, anmuten – die Islamisten sehen sie als legitime Vergeltung für die vermeintliche Unterdrückung der muslimischen Minderheit Kenias. Und finden mit ihrer Terrorbotschaft «unter jungen Menschen, die keine Zukunft, keine Hoffnung haben», Gehör. Und oft auch neue Rekruten.
Die kenianischen Muslime sind vornehmlich in den Küstenregionen des Landes angesiedelt, dort lebten sie «seit Jahrzehnten mehrheitlich friedlich mit Christen zusammen», so Wülser. Doch die Situation habe sich in den letzten Jahren drastisch verändert: «An der Küste vollzieht sich ein Teufelskreis. Es ist eine sehr arme Gegend, arm an Wirtschaft, arm an Struktur. Ihr einziges Kapital sind die weissen Strände – und damit der Tourismus.»
Armut als Brandbeschleuniger für den Terror
«Doch dieser kam durch die Anschläge der letzten Jahre nahezu zum Erliegen, viele junge Menschen sind arbeitslos. Schulen, Strassen, die Stromversorgung – alles sei in desolatem Zustand», erklärt Wülser: «Viele Muslime fühlen sich von der herrschenden christlichen Mehrheit im Zentrum in Nairobi vernachlässigt. Das ist der Nährboden, auf dem radikale Prediger ihre Saat ausstreuen können.»
Die Situation in Kenia erinnere entfernt an diejenige in Nigeria, wo die Terrormiliz Boko Haram radikalisierten Muslimen Zulauf erhält: «Auch hier lässt eine christliche, ressourcenreiche Mehrheit die muslimische Minderheit nicht am Reichtum des Landes teilhaben.»
Fragwürdige Terrorbekämpfung
Der kenianische Sicherheitsapparat tue denn auch wenig, um die angespannte soziale Situation im Land zu entschärfen. Im Gegenteil: «Die Polizei reagiert mit äusserster Brutalität auf Radikalisierungstendenzen unter Muslimen. Infolge von Razzien in Moscheen kam es zu Erschiessungen. Erst vergangene Woche wurde ein junger Muslim in Mombasa, der zweitgrössten Stadt des Landes, ohne Gerichtsverfahren durch Polizeikräfte getötet.»
Dazu zerstöre die grassierende Korruption im Militär das Vertrauen in die Staatsmacht. Einen besonders krassen Fall deckte zuletzt ein UNO-Bericht auf: «So besetzte die kenianische Armee etwa den zweitgrössten Hafen in Somalia. Diesen nutzte die Al-Shabaab jahrelang als Umschlagplatz für illegale Handelsgeschäfte mit Saudi-Arabien. Anstatt die Haupteinnahmequelle der Terrormiliz zum Versiegen zu bringen, sollen sich Armeeangehörige die Einnahmen mit der radikal-islamischen Miliz teilen.»
Zwar begrüsst Wülser «alles, was hilft, das sinnlose Morden zu beenden.» Zuerst müsste aber die grassierende Korruption unter den Sicherheitskräften, aber auch die sozialen Missstände im Land bekämpft werden. Ansonsten würden die Islamisten immer Schlupflöcher finden, um Anschläge auszuüben.