Auf Youtube tauchen Amateurvideos auf: Im Dunkeln sind Hunderte Männer und Frauen zu sehen. Sie rufen: «Das Volk will den Sturz des Regimes, Gaddafi, raus, raus!». Die Demonstranten in der libyschen Hafenstadt Bengasi werden von der Polizei niedergeknüppelt. Die Repression nützt nichts – die Protestwelle erfasst nach dieser Nacht am 15. Februar 2011 das ganze Land. Und führt zum Sturz des Diktators Muammar al-Gaddafi.
Bengasi als Anfangsort der Massenproteste war kein Zufall – Gaddafi und seine Eliten waren dort verhasst. Die Bevölkerung spürte nichts vom Geldsegen aus dem Ölgeschäft. Gaddafi hatte gewisse Regionen wirtschaftlich absichtlich privilegiert behandelt.
«Er spielte Regionen und Individuen gegeneinander aus, damit sie permanent in Konkurrenz standen – so konnte die Führung selbst profitieren.» Dies sagt Mahmoud Mohamedou im Interview mit «SRF News Online».
SRF News Online: Bengasi ist der Ort in Libyen, wo es in letzter Zeit am unruhigsten war. Weshalb ist die Gefahr von Terror-Attacken genau in Bengasi gross?
Mohammad-Mahmoud Ould Mohamedou: Nach Gaddafis Sturz wurde Bengasi zu einem Sammelpunkt aller möglichen politischen Bewegungen: von Oppositionsgruppen – liberale Demokraten, religiös orientierte Demokraten, – aber auch von Radikalen und wirklichen Extremisten. Die Ansammlung dieser verschiedenen Interessen hat ein Problem verstärkt: In der Region, die schon vorher unter einem bewaffneten Konflikt litt, führte dies zu einer extremen Zunahme von Waffen.
Was war die Folge?
Nach der Revolution gab es in Bengasi keine starke zentrale Behörde. Diese Instabilität führte besonders im vergangenen Jahr zu einer grossen Unsicherheit. Es gab Kämpfe zwischen verschiedenen Stämmen oder Milizen, und Attacken auf westliche Einrichtungen – auf einen englischen Konvoi oder auf das US-Konsulat, bei dem im September 2012 der Botschafter und drei Amerikaner ums Leben kamen.
Diese Situation hat sich bis jetzt nicht verändert. Zahlreiche westliche Länder haben ihren Bürgern geraten, Bengasi zu verlassen...
Die Gewalt bleibt ein ernsthaftes Thema für ganz Libyen. Um ihr Herr zu werden, müssten Demobilisierungsmassnahmen der Milizen und deren Reintegration in die Gesellschaft gewährleistet werden.
Um die schwierige Sicherheitslage in Bengasi aber auch in der Hauptstadt Tripolis unter Kontrolle zu bringen, hat das Parlament vor kurzem ein Gesetz verabschiedet: Es erlaubt, dass private Sicherheitsfirmen Parlamentarier oder Ölförderanlagen schützen dürfen. Ist die Polizei nicht stark genug, um die Sicherheit zu garantieren?
Unruhiges Bengasi
Das ist genau das Problem. Die Schwäche des Staates bewirkt zweierlei: Er kann die Sicherheit nicht garantieren. Und dies führt dazu, dass wichtige Schlüsselaufgaben des Staates privatisiert werden.
Wer sorgt in der Region am meisten für Unruhe? Radikale Islamisten oder ehemalige Gaddafi-Anhänger?
Es gibt Gruppierungen, die nostalgisch sind wegen des gefallen Gaddafi-Systems. Aber diese sind nicht sehr stark und auch nicht besonders aktiv. Die radikalen Islamisten-Gruppen sind mächtiger. Aber es ist schwierig, diese genau zu definieren. Klar ist, dass ihr Einfluss verschiedene Sektoren durchdringt. Wie gross dieser ist, hat der Angriff auf das US-Konsulat gezeigt.
Wie stark ist die Demokratie-Bewegung in Bengasi noch?
Traditionell gab es in Libyen keine zivilrechtliche Gesellschaft mit aktiven politischen Parteien. Allerdings herrscht seit der Revolution ein unbestreitbar, starker demokratischer Ethos. Viele Libyer dürsten in erster Linie nach Gerechtigkeit.
Wer könnte die Revolution schlussendlich gewinnen?
Die libysche Bevölkerung. Wenn sie die Übergangsphase schafft. –
Zehntausende feiern in der Hauptstadt
Feiern zum Jahrestag gab es im ganzen Land. In der Hauptstadt Tripolis versammelten sich am Wochenende zehntausende Menschen auf dem Märtyrerplatz.
«Die Begeisterung war gross», sagt Maghreb-Spezialist Beat Stauffer gegenüber Radio SRF. «Tripolis war in Festlaune». Doch der Eindruck täuscht: «Es ist schwierig, nach der Diktatur eine demokratische Kultur aufzubauen.»