Stellen Sie sich vor, das Schweizer Parlament fällt einen Entscheid, doch am Tag danach will niemand mehr etwas davon wissen. Weder Gemeinden, Kantone noch der Bund setzen die Entscheide um. Dann macht Politik keinen Sinn mehr. Genau an diesem Punkt ist die EU in der Flüchtlingskrise angekommen, wie der Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk, vor dem EU-Parlament feststellt.
Zum ersten Mal überhaupt sehe er das politische System der EU in Gefahr. Er treffe sich regelmässig mit Merkel, Hollande, Renzi und Co. zu Gipfeln und Sondergipfeln. Sie fällten Entscheide, doch am Tag danach wolle niemand mehr etwas davon wissen, so Tusk. Wenn sie sich nicht mehr an gemeinsame Entscheide hielten, wie in der Flüchtlingskrise, mache ihre Arbeit aber keinen Sinn.
Öffentliches Levitenlesen als letztes Mittel
Dass der Präsident des Europäischen Rates den Staats- und Regierungschefs öffentlich derart die Leviten liest, ist unüblich. Tusk ist offensichtlich tief besorgt über die Zukunft der EU, ansonsten würde er nicht zu diesem Mittel greifen. Und wenn sich der Präsident des Europäischen Rates so äussert, sollte das ernst genommen werden.
Tusk gab ihnen noch zwei Monate Zeit, um die beschlossenen Massnahmen zur Bewältigung der Flüchtlingskrise auch wirklich umzusetzen. Der EU-Gipfel am 17. und 18. März in Brüssel sei der «letzte Augenblick», um zu beurteilen, ob die gemeinsame Flüchtlingsstrategie greife, sagte er dem Strassburger Europaparlament. «Falls nicht, werden wir mit schwerwiegenden Konsequenzen wie dem Zusammenbruch von Schengen konfrontiert sein.»