SRF News: François Fillon gewinnt den ersten Wahlgang mit deutlichem Vorsprung – ist er mit diesem Resultat praktisch schon gewählt?
Charles Liebherr: Er hat sicher gute Chancen. Aber es beginnt jetzt nochmal ein neuer Wahlkampf mit nur noch zwei Kandidaten und das ist eine ganz andere Ausgangslage wie im ersten Durchgang, als sieben Personen zur Auswahl standen. Es geht jetzt um zwei ganz unterschiedliche politische Visionen: Es ist eine Richtungswahl.
Wofür steht der ehemalige Premierminister François Fillon?
Fillon wird immer wieder als «Herr Thatcher» bezeichnet – in Anspielung auf die früherer konservative britische Premierministerin Margaret Thatcher. Sein Wirtschaftsprogramm ist neoliberal: Staatsausgaben senken, Steuern massiv herunterfahren; er fordert die Aufgabe der 35-Stunden-Woche und will vor allem die Entlassung von hunderten Beamten. Auch seine Themen in der Gesellschaftspolitik und bei Bildungsfragen sind sehr konservativ und er verspricht einen harten Kurs gegenüber Einwanderern.
Welche politische Vision vertritt Alain Juppé?
Juppé steht viel mehr für eine offene Gesellschaft, für eine moderne Gesellschaft mit liberalen Werten – da sind die Unterschiede zu Fillon sicher am grössten. In der Wirtschaftspolitik sind die Unterschiede weniger deutlich. Aber Juppé gesteht dem Staat schon eine etwas grössere Rolle zu und will weniger bei den Beamten sparen. Das könnte beim Wahlgang zu einem gewichtigen Argument für ihn werden.
Wer hat die besseren Karten – der ausgleichende Landesvater Juppé oder der neoliberale Fillon?
Das Rennen ist offen. Entscheidend dürfte sein, wie sich die politische Mitte mobilisieren lässt – vielleicht auch enttäusche Wähler von Präsident Hollande. Je stärker dies geschieht, desto besser stehen die Chancen von Juppé. Auf der anderen Seite dürften die Anhänger von Sarkozy eher Fillon unterstützen. Das kann spannend werden.
Entscheidend dürfte sein, wie sich die politische Mitte mobilisieren lässt.
Für den ehemaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy muss das eine Demütigung sein. Wie reagierte er auf seine Niederlage?
Es ist nicht nur eine Demütigung, man muss sogar von einer politischen Katastrophe sprechen. Nichts lief so ab, wie er sich das vorgestellt hatte. Er war nicht der Retter der Rechten, er musste die Vorwahlen gegen seinen Willen zulassen. Er wählte einen opportunistischen Kurs, in dem er voll auf die Wähler ganz rechts in seinem Lager zielte – und wie bei den Präsidentschaftswahlen 2012 verliert er dabei alles. Es ist eine wahrlich bittere Niederlage.
Warum wurde er nicht gewählt?
Es gab einen Anti-Sarkozy-Effekt – wie schon bei den Präsidentschaftswahlen 2012. Man konnte das im Wahlkampf gut beobachten. Es gab viele Menschen die irgendeinen Kandidaten wählten, nur um möglichst Sarkozy zu verhindern. 2012 profitierte Hollande davon. Für viele ist die Person Sarkozy einfach nicht wählbar, das liegt auch weniger an seinem politischen Programm. Aber seine Justizaffären, die im Wahlkampf auch wieder aufgekocht wurden, spielten sicherlich eine Rolle.