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Erdogan beim Betreten der Fatih-Moschee in Istanbul vor wenigen Tagen, beschützt von einer bewaffneten Sicherheitskraft.
Legende: Bringt Erdogan Sicherheit zurück? Oder trägt er eine Mitverantwortung für die instabile Lage? Die Türkei ist gespalten. Reuters

International «Erdogan spaltet Land und Gesellschaft»

Der Anschlag am Istanbuler Flughafen reiht sich an mehrere Attentate in der Türkei in den letzten Monaten. Vieles deutet daraufhin, dass die Selbstmordattentäter im Auftrag des IS handelten. Eine Einschätzung zum jüngsten Anschlag von SRF-Auslandredaktorin und Türkei-Spezialistin Iren Meier.

SRF News: Wie glaubhaft ist es für Sie, dass der IS hinter dem Anschlag steckt?

Iren Meier: Im Moment ist alles erst Spekulation. Der türkische Ministerpräsident spricht von ersten Hinweisen, die in Richtung Islamischer Staat IS deuten. Bis zur Stunde hat sich niemand zum Anschlag bekannt. Für die IS-Spur sprechen der Ablauf und der Tatort: Ein Selbstmordanschlag an einem öffentlichen Platz, wo es sehr viele Menschen trifft, auch Ausländer. Es gab dieses Jahr bereits in der Istanbuler Altstadt ein Anschlag auf Touristen, der dem IS zugeschrieben wird. Auch die schweren Anschläge von Suruç und Ankara im letzten Jahr verübte die Terrormiliz IS mit Selbstmordattentätern. Und dazu kommt, dass der IS viele Schläferzellen in der Türkei hat und der türkischen Regierung auch immer wieder mit Terror droht.

Iren Meier

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Porträt Iren Meier

Iren Meier ist SRF-Auslandredaktorin mit dem Spezialgebiet Türkei. Sie war von 2004 bis 2012 Nahost-Korrespondentin und lebte in Beirut. Von 1992 bis 2001 war sie als Osteuropa-Korrespondentin tätig – erst in Prag, dann in Belgrad.

Was könnten die Gründe sein, weshalb die Türkei ins Visier möglicher Anschläge des IS gerückt ist?

Die Türkei hat die sunnitisch-militante Terrormiliz IS lange Zeit mehr oder weniger frei walten lassen, sie wuchs unter den Augen von Präsident Erdogan immer weiter, verkehrte im syrisch-türkischen Grenzgebiet ziemlich frei und nutzte die Türkei als Rückzugshafen. Auf Druck des Westens geht Erdogan seit einiger Zeit härter gegen den IS vor, verhaftet seine Mitglieder und kontrolliert das Grenzgebiet zu Syrien stärker. Seither verübt der IS Anschläge in der Türkei, sozusagen als Rache. Damit destabilisiert er die Türkei.

Offenbar ist den Selbstmordattentätern, ausgerüstet mit Gewehren und Sprengsätzen, gelungen, bis ins Innere des Flughafens vorzudringen. Wie steht es um die Sicherheit am Istanbuler Flughafen Atatürk?

Das wird sehr widersprüchlich beurteilt. Von aussen betrachtet wirkt der grösste Flughafen des Landes, in dem jährlich mehr als 60 Millionen Passagiere abgefertigt werden, sehr gesichert. Viele Kontrollen, viel Polizei. Aber vermutlich nicht systematisch. Es heisst, die Täter seien mit dem Taxi zum Flughafen gefahren. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, man wird jeweils nur ganz kurz angehalten, wenn man mit dem Taxi ankommt. Anderseits ist die hundertprozentige Sicherheit auf einem Flughafen überall auf der Welt, und besonders auf einem so riesigen Flughafen wie in Istanbul, eine Illusion. Die kann es nicht geben. Kommt dazu, dass die Anschläge offenbar im Ankunftsterminal verübt wurden. Da ist der Zugang generell in den meisten Flughäfen weniger kontrolliert.

In den letzten Monaten wurden in der Türkei mehrere Anschläge verübt. Welche Rolle spielt die Politik von Präsident Erdogan?

Wie erwähnt spielt sein Schwenk gegenüber dem IS, von der Duldung zur Überwachung und teilweisen Verfolgung, eine wichtige Rolle. Der Krieg in Syrien und die unterschiedlichen politischen Interessen sind von grosser Bedeutung. Aber der Terror in der Türkei hat auch zugenommen, seit der türkische Staat den Krieg gegen die Kurden und die PKK im Südosten des Landes wieder aufgenommen hat und brutal führt. Auch eine Splittergruppe der in der Türkei verbotenen PKK hat in den letzten Monaten Terroranschläge verübt, als – wie sie sagt – Antwort auf das Vorgehen der türkischen Armee und Polizei in den Kurdengebieten.

Kürzlich hat Erdogan gesagt, man brauche keine Waffe zu tragen um ein Terrorist zu sein

Und generell destabilisiert und spaltet die autokratische Politik von Präsident Erdogan Land und Gesellschaft. Wenn der Staat mit Gewalt und Einschüchterung gegen Oppositionelle und Andersdenkende vorgeht, wenn die Grundrechte der Demokratie so drastisch eingeschränkt werden, macht das den Boden ganz allgemein fruchtbarer für Gewalt und Terror.

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Erdogan forderte die Weltgemeinschaft auf, eine «entschlossene Haltung gegen Terrorgruppen einzunehmen». Ein Appell? Oder ein Vorwurf? Wie interpretieren sie seine Aussage nach dem jüngsten Anschlag?

Präsident Erdogan nutzt auch diesen Anschlag, um seine Politik der harten Hand, seinen Kampf gegen den Terror noch stärker zu propagieren. Terroristen sind aber für ihn nicht nur die IS-Fanatiker, sondern auch die Kurden, auch Zivilisten, es sind Andersdenkende, Kritiker, Oppositionelle. Kürzlich hat Erdogan gesagt, man brauche keine Waffe zu tragen um ein Terrorist zu sein, eine Feder oder ein Kugelschreiber genüge auch. Damit meinte er ganz direkt Journalisten und Akademiker.

In der türkischen Gesellschaft werden die Gräben immer tiefer

Und er hat vor allem die syrischen Kurden im Visier: das sind für ihn Terroristen und zu seinem Leidwesen arbeiten die USA mit diesen kurdischen Verbänden in Syrien zusammen gegen den IS. Erdogans Aussage heute richtet sich darum unter anderem auch an die USA in diesem Zusammenhang.

Was könnte der jüngste Anschlag in der türkischen Bevölkerung auslösen? Steht sie erst recht hinter der Regierung oder muss die Regierungsspitze mit einem Vertrauensverlust rechnen?

In der türkischen Gesellschaft werden die Gräben immer tiefer. Erdogans Anhänger werden sich hinter dem Präsidenten versammeln und glauben, er gäbe ihnen die Sicherheit zurück. Die andere Hälfte der Bevölkerung dagegen sieht die Schuld für den Terror beim Präsidenten. In ihren Augen ist er mit seiner Politik mitverantwortlich am Wachsen des IS und an der Militanz der kurdischen PKK.

Das Gespräch führte Emanuel Gyger.

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