SRF News: Mit den Römischen Verträgen wurde die EU vor 60 Jahren ins Leben gerufen. Martin Naef, was wünschen Sie dem Geburtstagskind?
Martin Naef: Ich wünsche dem Geburtstagskind und allen Menschen in Europa, dass sie sich wieder bewusst werden, welch historische Leistung mit diesen Verträgen und der nachfolgenden europäischen Integration verbunden ist. Der Vertrag hat uns in den letzten 60 Jahren Frieden und Sicherheit in Europa gebracht.
Ein EU-Beitritt der Schweiz steht zurzeit in weiter Ferne. Hat die neue europäische Bewegung Schweiz (Nebs) überhaupt noch eine Daseinsberechtigung?
Das hat sie umso mehr, da ein EU-Beitritt gerade in einer gewissen Ferne scheint. Und weil im Moment nicht klar ist, welchem Europa man als Schweiz heute beitreten würde. Es ist wichtig, dass die proeuropäischen Kräfte in der Schweiz ihr Gefäss haben. Sie müssen sich immer wieder ins Bewusstsein rufen, worum es eigentlich beim europäischen Einigungsprozess geht.
Die Bilateralen sind ein mühsam erkämpftes Provisorium.
Ist denn der bilaterale Weg immer noch die richtige Strategie?
Nein, das ist nur ein Zwischenschritt. Der bilaterale Weg weist souveränitäts-politische Mängel auf. So ist der autonome Nachvollzug von EU-Recht das Gegenteil von Souveränität. Wir möchten als Land mitbestimmen. Deshalb ist die Nebs auch klar für einen EU-Beitritt. Seit 2006 hat die Schweiz keine neuen bilateralen Verträge abschliessen können, die Dynamik in der Weiterentwicklung dieses Wegs ist weg. Als Pro-Europäer hat man zurzeit keine Alternative. Allerdings sind die Bilateralen ein mühsam erkämpftes Provisorium, hochkompliziert und das Gegenteil von souverän.
Wir sind auch Teil Europas und was dort passiert, lässt uns nicht kalt.
In welche Richtung soll sich das Verhältnis Schweiz-EU entwickeln?
Wir müssen uns bewusst sein, dass sich auch die EU anlässlich des Jubiläums selbst hinterfragt. Europa wird sich sicherlich auch weiterentwickeln. In welche Richtung das geschieht, wissen wir allerdings noch nicht.
Gibt es Anzeichen dafür?
Es ist schon heute eine Tatsache: Es gibt ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Und daran ist auch unser Land beteiligt. So ist die Schweiz beispielsweise Schengen/Dublin-Mitglied, einzelne EU-Mitglieder nehmen nicht daran teil. Die Schweiz hat zudem mehr EU-Recht in unsere Rechtsordnung übernommen als einige Mitgliedsstaaten. Das zeigt: Wir sind auch Teil Europas und was dort passiert, lässt uns nicht kalt. Die Schweiz wird sich deshalb an der Weiterentwicklung des Kontinentes auch aus eigenem Interesse beteiligen müssen. 25 Jahre nach der EWR-Abstimmung und der künstlichen Dialektik, welche die SVP inszeniert hat, wird sich das Verhältnis der Schweiz zur EU wieder etwas entspannen, davon bin ich überzeugt.
Es gibt berechtigte und sehr fundamentale Kritik an der Politik der Europäischen Union.
Wo sehen Sie dabei die Herausforderungen?
Einerseits sind diese bedingt durch die direkte Demokratie. Es wird immer wieder Abstimmungen geben, die Europa betreffen. Das ist aber auch die Stärke der Schweiz. Denn hat sich einmal etwas auf direktdemokratischem Weg etabliert – beispielsweise die Personenfreizügigkeit – ist dies nahezu unbestritten. Unser Land wird diesen Weg der Annäherung und Abtastung weitergehen, wie übrigens jedes andere Land auch. Dies schliesst andere EU-Mitgliedländer mit ein. Auch die Dänen, die 1992 den Maastricht-Vertrag ablehnten, sind Dänen geblieben. Die Schweiz wird genau gleich ihren Weg innerhalb Europas suchen und finden.
Das klingt ja sehr positiv. Gibt es auch negative Herausforderungen?
Beim europäischen Einigungsprozess an sich gibt es nichts Negatives. Als SP-Nationalrat muss ich aber sagen: Es gibt berechtigte und sehr fundamentale Kritik an der Politik der Europäischen Union. Die EU-Haushaltspolitik, der Mangel an Subsidiarität oder der Mangel an gelebtem Föderalismus, um nur einige zu nennen. Aber auch, dass die einzelnen Nationalstaaten zu viel Gewicht haben. Die Flüchtlingskrise hat ebenfalls gezeigt, dass es in der EU unterschiedliche Vorstellungen dessen gibt, was Europa sein soll.
Wie war das ursprüngliche Europa denn gedacht?
Das Europa der Gründerväter war eine wertezentrierte Vorstellung. Es war ein Europa der Menschenrechte, ein Europa des Friedens und der Solidarität. Hier vermute ich bei gewissen Regierungen wie beispielsweise Polen und Ungarn, dass dort andere Vorstellungen vorhanden sind. Diese orientieren sich mehr am ökonomischen Erfolg des Binnenmarktes. Gleichzeitig vergessen sie aber, welche Idee hinter dem Projekt Europa steckt. Gerade auch mit der Integration der osteuropäischen Länder hat sich dies ja auch gezeigt. Das sind Baustellen der Europäischen Union. Und gerade deshalb muss sich die Schweiz mit ihren Erfahrungen an der Weiterentwicklung der EU beteiligen.
Das Gespräch führte Richard Müller.