«Sie schossen herum und schrien.» Die 18-jährige Studentin eines Internats im nigerianischen Chibok erzählt die Geschichte ihres Lebens einem RTS-Journalisten in Genf. Die junge Frau ist ruhig und gefasst. Aber was sie erzählt, erfüllt einen mit Grauen.
Knaben hätten sie sofort getötet
«Die Männer gingen erst zu den Lehrerunterkünften, aber die Lehrer waren schon weg.» Die vermummten Kämpfer der radikalislamischen Terror-Miliz Boko Haram hätten die Motorräder der Lehrer genommen und seien zur Mädchen-Unterkunft auf dem Gelände gefahren. «Wir dachten darum zuerst, es wären unsere Lehrer, die uns zu Hilfe kommen», gibt Saa zu Protokoll. Das war ein Irrtum.
Die Terroristen dringen in die Unterkunft ein und suchen zuerst nach den Knaben. Die hätten sie sofort getötet. Aber seit die Terrormiliz Schulen in anderen Städten gestürmt hat, ist man in Chibok auf der Hut – die männlichen Schüler des Internats wohnen nicht mehr auf dem Gelände.
«Besser tot als verschollen»
«Sie haben zwei Mädchen mit dem Tod bedroht», erzählt Saa dem Journalisten, «sie wollten wissen, wo wir unser Essen aufbewahren.» Danach habe man sie draussen vor der Schule zusammen getrieben und auf die Ladefläche eines LKWs gepfercht. «Wir hatten keine Ahnung was sie vorhaben. Wir hatten grosse Angst.»
Während der Lastwagen mit den Mädchen in den Dschungel fährt, denkt Saa an ihre Familie. «Wenn du getötet wirst, ist das für deine Familie schlimm. Aber es ist viel schlimmer, wenn du einfach spurlos verschwindest und sie nichts wissen.» Dieser Gedanke ist es, der die mutige Frau antreibt.
Inzwischen töten sie auch alle Muslime.
Nur kurz bespricht sie sich mit einer neben ihr sitzenden Freundin. Dann springen beide vom Lastwagen. Mitten im Urwald. «Meine Freundin hat sich den Fuss verletzt, also haben wir uns versteckt», berichtet Saa, als würde sie von einer gemütlichen Wanderung reden. Einer der Kämpfer hat sie verfolgt.
Saa hat ursprünglich an einer anderen Schule studiert. Sie kam nach Chibok, weil die Boko Haram andere Städte angegriffen hat und sie sich in diesem Internat sicher fühlte.
Klar hätten die Leute auch in Chibok Angst vor den Terroristen, schildert Saa die Gefühle der Menschen. Aber sie seien auch wütend, weil weder das Militär noch die Regierung irgendetwas unternähme gegen die Schlächter. Für die junge Studentin nicht verwunderlich.
«Die Boko Haram hat starke Waffen. Die Militärs haben nichts.» Die Terroristen kämen und würden sie einfach töten. Als alles begann, ermordeten die Kämpfer ausschliesslich Christen. «Sie brannten ihre Häuser und ihre Kirchen nieder», erzählt Saa. «Aber inzwischen töten sie auch alle Muslime.» Die Begründung klingt logisch und ist von unglaublicher Kaltblütigkeit.
Alle Muslime, auf die sie treffen, kämpfen ganz offensichtlich nicht im Dschihad. Und wer nicht im Dschihad kämpft, ist ein Verräter. Warum sie die Mädchen der Schule entführt haben, kann Saa nur vermuten. Wahrscheinlich dachten sie, dass sie Knaben antreffen, die sie hätten töten können. Enttäuscht entschieden sie sich, wenigstens von den Mädchen zu profitieren. Saa und ihre Freundin entkamen diesem Grauen.
Ein Muslim verweigert die Hilfe – zunächst
Die beiden Frauen sitzen in der Mitte der Ladefläche. Weit genug entfernt von den Kämpfern, die hinten und vorne platziert sind. Die Frauen sprechen sich ab und springen. Der Kämpfer, der ihnen im Urwald folgt, findet sie nicht. Die beiden Frauen irren durch den Wald, bis sie am Morgen auf einen Hirten treffen. Ein Muslim. Auch er hat Angst.
Die Christin Saa kann ihn nach langem Reden überzeugen. Er bringt sie auf seinem Fahrrad in ein nahes Dorf. Dort lebt ein junger Mann mit einem Motorrad. «Er hat uns zurück nachhause gebracht.»
«Ich vergebe ihnen»
Saas persönliche Erklärung für die Greuel der Terror-Miliz ist nicht weniger entwaffnend als deren Erklärung: Man hat sie gelehrt, dass sie in den Himmel kommen, wenn sie töten. «Sie haben keine Vorstellung, wie es ist, Angehörige so zu verlieren.» Was die Nigerianer gegen diese Ignoranz tun können, auch das ist der jungen Frau klar. Und was sie sagt, unterstreicht die unaufgeregte Beherztheit ihrer Person.
«Was die Regierung tun kann, weiss ich nicht», sagt sie, «aber für uns gibt es nur eines: Die geflohenen Christen müssen zurückkehren. Und sie müssen versuchen, die Boko-Haram-Kämpfer zu Christen zu machen.»
Ob sie, Saa, die Boko Harem hasse, will der Journalist am Ende des Interviews wissen. «Ich vergebe ihnen», antwortet Saa, «denn sie glauben an Gott und haben einfach nicht gewusst, dass Töten eine Sünde ist.»
Das Interview führte der RTS-Journalist Cyril Dépraz.