Deutschland ist unter den Asylsuchenden populär: 800‘000 Anträge erwartet Deutschland für das laufende Jahr. Das sind doppelt so viele wie ursprünglich geplant.
Bereits 2014 war Deutschland Spitzenreiter in Sachen Asylanträgen, schaut man sich die absoluten Zahlen an: Über das ganze Jahr hinweg registrierte das Land 202‘815 Gesuche.
Das ist dreimal mehr als in Frankreich und Italien, sechsmal mehr als Grossbritannien und neunmal mehr als die Schweiz. Im Gegensatz dazu wiesen Länder wie Rumänien, Bulgarien, Griechenland, die eigentlich geographisch näher an den Krisenländern liegen, verdächtig tiefe Zahlen bei den Asylanträgen auf.
Ob Pro Kopf oder in absoluten Zahlen – die Unterschiede lassen auf den ersten Blick nur einen Schluss zu: Die EU ist von einem einheitlichen Asylsystem weit entfernt. Tatsächlich aber arbeitet die Union schon seit 1999 an einem solchen. Angesichts der aktuellen Flüchtlingsverteilung und der dramatischen Flüchtlingssituationen in Süd- und Osteuropa dürfte das Projekt eines EU-weiten «Raumes des Schutzes und der Solidarität» noch längere Zeit reines Wunschdenken bleiben.
Dubliner Übereinkommen hat versagt
Die grossen regionalen Unterschiede bei den Asylanträgen sind für Melissa Fleming, Sprecherin des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Menschenrechte (UNHCR), zunächst Ausdruck einer dysfunktionalen Europäischen Union. «In gewissen Mitgliedstaaten sind die Aufnahmeverfahren effektiv und damit fair für die Flüchtlinge. In anderen Ländern sind die Systeme kaum der Situation angemessen.»
Für Fleming steht deshalb fest, dass das Dublin-Abkommen, das eine klare Zuständigkeit der Staaten regeln sollte, versagt hat. Das sei auch an der tiefen Zahl Asylanträge in sicheren Drittstaaten wie Italien oder Griechenland erkennbar. «Wenn die Flüchtlinge zum Beispiel nach Deutschland oder Schweden wollen, weil dort die Chancen einer Anerkennung ihres Asylantrags grösser ist, verweigern sie ihre Registrierung in den anderen Staaten. In Griechenland müssen sie nicht einmal die Registrierung verweigern. Sie wissen, dass sie nicht dorthin zurückgeschickt werden, weil in Griechenland die Bedingungen so unzumutbar sind.»
Unzumutbare Bedingungen in Griechenland
Eine grosse Rolle spielt gemäss Melissa Fleming auch die Frage, ob die Flüchtlinge Aussichten auf ein permanentes Bleiberecht haben. So kenne Schweden aktuell für syrische Flüchtlinge ein Ausnahmeverfahren, das ihnen auch bei Kriegsende erlaube im Land zu bleiben.
Auch das European Asylum Support Office (Easo) bestätigt, dass die grossen Unterschiede beim Asylverfahren innerhalb der EU und der EU-Partnerstaaten zu einem Ungleichgewicht bei der Verteilung der Flüchtlinge führen. Gemäss Jean-Pierre Schembri, Sprecher der Easo, würden die European Union’s Reception Conditions Directive zwar die materiellen Mindestanforderungen definieren. «Da diese aber von den Mitgliedstaaten unterschiedlich implementiert werden können, existieren gegenwärtig unterschiedliche Betreuungsangebote», so Schembri.
Bis zu 140 Euro Taschengeld
Unterschiede machen sich dem Easo-Sprecher zufolge auch bei der Unterbringung, der medizinischen Versorgung und der Zulagen bemerkbar. «Die medizinische Versorgung wird normalerweise in Notsituationen allen gewährt. Einzelne Mitgliedstaaten kennen darüber hinaus spezialisierte Dienstleistungen.»
Bei den Zulagen sind die Unterschiede gemäss Schembri besonders markant: «Das Taschengeld beträgt je nach Land zwischen 4 und 140 Euro pro Monat.» Beim Vergleich der Beträge müsste allerdings bedacht werden, dass die Kaufkraft innerhalb der Staaten stark variiere.
Grosse Eritreer-Diaspora in der Schweiz
Für Léa Wertheimer, Sprecherin des Staatssekretariats für Migration, hat die ungleiche Verteilung der Asylanträge innerhalb der EU und in den EU-Partnerstaaten nicht nur institutionelle Gründe. «Neben der jeweiligen Lage des Landes und seiner Distanz zu stark benutzten Routen, spielt die Diaspora eine grosse Rolle.» Die Schweiz habe beispielsweise eine grosse eritreische Gemeinde. Für Eritreer wäre es daher naheliegend, ebenfalls in die Schweiz zu kommen, weil sie hier Leute ihrer Kultur vorfinden würden.
Auch das Asylverfahren spiele eine Rolle, allerdings würde es von den Asylsteller je nach Situation unterschiedlich gewichtet. «Angehörige bestimmter Staaten werden im Schweizer Asylverfahren Vorteile sehen, andere jedoch werden es als nachteilig empfinden. Das hängt stark von der individuellen Situation ab», so Wertheimer.
Gemäss Wertheimer führte die Einführung des sogenannten «48-Stunden-Verfahren» zu einem deutlichen Abfall der schwach begründeten Asylgesuche. Dadurch habe sich die Schutzquote von Asylgewährungen und vorläufigen Annahmen etwas erhöht. «Das zeigt, dass das System seinen eigentlichen Zweck erfüllt. In der Schweiz suchen diejenigen Menschen Schutz, die tatsächlich an Leib und Leben bedroht sind.»