Brüssel sucht den Superverdiener. So könnte das Politspektakel auch heissen, das Europa die nächsten Tage beschäftigen wird. Dem Sieger winkt der wichtigste Chefsessel in der EU – und ein Jahressalär von umgerechnet rund 350'000 Franken. «Hast Du einen Opa, schick ihn nach Europa!», spotten denn auch Kritiker.
Im Rennen um die Nachfolge José Manuel Barrosos hat Jean-Claude Juncker (EVP) derzeit die besten Aussichten. Die Fraktionen im EU-Parlament haben sich hinter den konservativen Spitzenkandidaten gestellt. Der zweite Topfavorit, Martin Schulz (SPE), hat nur noch Aussenseiterchancen – für beide Politiker liegt das Ziel aber noch in weiter Ferne.
Die Ausgangslage
Obwohl der definitive Ausgang der Europawahl vom Sonntag, 25. Mai, noch nicht feststeht, erhoben sowohl Juncker als auch Schulz bald nach Bekanntgabe der ersten Resultate Anspruch auf das Amt des EU-Kommissionspräsidenten. «Ich habe gewonnen», twitterte der Konservative, und sein sozialdemokratischer Gegenspieler zeigte sich mit seinen Freunden in Jubelpose.
Trotz fast 60 verlorener Sitze werden die Konservativen mit voraussichtlich 213 von 751 Sitzen die grösste Fraktion im EU-Parlament bilden. Dass er nun EU-Kommissionspräsident werde, sei der «logische nächste Schritt», sagte Jean-Claude Juncker.
Die Sozialdemokraten wiederum leiten ihren Führungsanspruch aus der Tatsache ab, dass sie nach bisherigem Stand «nur» 6 Mandate verloren haben und mit 190 Sitzen die zweitstärkste Fraktion stellen. «Ohne die Stimmen der Sozialdemokraten wird kein Präsident gewählt», sagte der deutsche SPD-Chef Sigmar Gabriel.
Das Prozedere
Was die Ernennung zum Präsidenten der Europäischen Kommission so kompliziert und unvorhersehbar macht, ist ein Artikel im EU-Vertrag, der erst 2007 eingeführt wurde. Darin heisst es:
Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament.
Nominiert wird ein Kandidat für den Vorsitz der EU-Kommission also nicht von den Parteien oder vom Parlament, sondern vom Europäischen Rat. Ausserdem sind die 28 Staats- und Regierungschefs der EU-Länder nicht absolut dem Volkswillen verpflichtet. In Artikel 17 des EU-Vertrags steht lediglich, der Rat «berücksichtige» das Ergebnis der Europawahlen. Theoretisch wäre es also möglich, dass am Ende weder Juncker noch Schulz die Nachfolge von Amtsinhaber Barroso antreten darf.
Erst wenn der Europäische Rat seinen Favoriten vorgeschlagen hat, kommt das EU-Parlament zum Zug. Bekommt der Kandidat keine Mehrheit, muss der EU-Rat innerhalb eines Monats einen neuen Kandidaten präsentieren.
Amtsbeginn für den nächsten EU-Kommissionspräsidenten ist erst im November. Anfangs Woche trafen sich die EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel zu informellen Treffen und Nachtessen, um die Ausgangslage zu besprechen. Experten rechnen damit, dass man sich bis Ende Juni Zeit lassen wird, einen Kandidaten zu ernennen. Im Juli soll dann die Wahl im EU-Parlament stattfinden.
Neben des EU-Kommissionspräsidiums gibts drei weitere hohe Ämter zu verteilen: der Präsident des EU-Rates, die Präsidentin des EU-Parlaments, ein neuer Aussenbeauftragter. Für die Zusammensetzung dieses Leaderquartetts ist der neue EU-Kommissionspräsident zusammen mit dem EU-Rat verantwortlich. Die Aufgabe erfordert viel politisches Fingerspitzengefühl: keine Region darf vernachlässigt werden, Parteien sollen angemessen vertreten sein – das gute Abschneiden populistischer und rechter Parteien macht die Sache nicht einfacher.
Die Aufgaben
Der Kommissionspräsident gibt der EU-Exekutive ein Gesicht. Sein Amt gleicht dem eines Regierungschefs auf nationaler Ebene. Gewählt wird der höchste Europäer für jeweils fünf Jahre. Im EU-Vertrag werden seine Aufgaben so beschrieben:
- Der Präsident der Kommission legt die Leitlinien fest, nach denen die Kommission ihre Aufgaben ausübt.
- Er beschliesst über die interne Organisation der Kommission, um die Kohärenz, die Effizienz und das Kollegialitätsprinzip im Rahmen ihrer Tätigkeit sicherzustellen.
- Er ernennt, mit Ausnahme des Hohen Vertreters der Union für Aussen- und Sicherheitspolitik, die Vizepräsidenten aus dem Kreis der Mitglieder der Kommission.
Zum Pflichtenheft des Vorsitzenden der EU-Kommission gehören die Teilnahme bei den Tagungen des Europäischen Rates, der Gruppe der acht führenden Industrienationen (G8) und bei den Sitzungen des EU-Parlaments.
SRF 4 News, 14 Uhr; Agenturen/SRF