Die Frage wird einem fast in den Mund gelegt. Was denkt Hans-Dietrich Genscher, der zu historischer Stunde an massgeblicher Stelle dabei war, als in Osteuropa 1989 die Zäune und Mauern fielen, einer, der selbst aus der DDR in den Westen geflüchtet war, angesichts der aktuellen Bilder von Flüchtlingen und neuen Zäunen?
«Ich glaube, dass wir erkennen sollten: Die Zeit der Zäune und der Grenzen, die undurchlässig sein sollen, sollten in Europa vorbei sein.» Die Frage, ob nun die Grenzen in Europa wieder aufgerichtet werden, ist für ihn absurd. Dennoch beantwortet er sie: «Ich bin nicht der Meinung, dass Deutschland das tun wird. Und ich denke auch, dass wir die Offenheit Europas nicht nur bei Schönwetterzeiten als etwas Grosses angesehen haben, sondern das wird auch weiterhin so sein.»
Ein Deutschland in der Mitte Europas
Diese Überzeugung ergibt sich aus dem Bild, das er von der Rolle Deutschlands hat. Das sei «auf gar keinen Fall» das einer europäischen Grossmacht. Er zitiert einen Engländer. Der habe wenige Wochen nach dem Ende des 2. Weltkrieges etwas Wichtiges gesagt: «Die Deutschen sind nicht dazu da, Europa und ihre Nachbarn zu beherrschen, sondern dazu, als grösstes Land in der Mitte Europas, dem Land mit den meisten Nachbarn, all den Völkern um sich herum verständlich zu machen, dass sie nur gemeinsam eine Chance für die Zukunft haben.»
Das sei die Beschreibung des europäischen Deutschlands, das sei seine Rolle. Und wenn Deutschland in diesen Tagen in strahlendem Licht erscheint, wenn die Flüchtlinge «Thank You Germany» skandieren, wenn Deutschland dieser Tage das Amerika Europas ist, als Land für die Heimatlosen und vom Sturm getriebenen erscheint, wie es auf der Freiheitsstatue in New York heisst.
Und dies nachdem vor wenigen Wochen noch das Bild vom «hässlichen Deutschen» in der Griechenlandkrise die Runde machte, findet Genscher, dass sich Deutschland endlich selbst gefunden habe. Nicht erst heute, aber besonders heute. «Wir sind heute dort angekommen, wo wir eigentlich immer hätten sein sollen: In der Mitte Europas, als Verbindung. Für mich war es eine wunderbare Erfahrung, zu sehen, wie nach dem Fall der Mauer auch unsere östlichen Nachbarn Mitglieder der Europäischen Union wurden. Das heisst, das alles ist Europa. Deutschland nicht als Grenzland in Europa, sondern wenn Sie so wollen als Anker des Zusammenhalts.»
Wieso kommt es gerade bei uns dazu, nachdem was wir im eigenen Land erlebt haben?
Aber warum brennt es gleichzeitig in Deutschland? 336 Brandanschläge wurden bis letzte Woche verzeichnet. 300 seien «rechts motiviert». Genscher weicht aus: «Das was derzeit geschieht, finde ich schrecklich.» Man müsse sich die Frage stellen: «Wieso kommt es gerade bei uns dazu, nachdem was wir im eigenen Land erlebt haben?» Aber er fände es auch grossartig, wie die Bürger jetzt darauf reagierten.
«Was an praktischer Hilfe geschieht, an Offenheit, an Willkommensgesten, ist bereits eine erste, überzeugende und von Herzen kommende Reaktion – und das ist etwas Grossartiges.» Wir sitzen in einem riesigen Raum unter dem Dach, voller Bücher und kleiner Elefanten, Genschers Symbolfigur. Das Haus bei Bonn atmet den Geist der alten Bundesrepublik, seit 1977 wohnen Genschers hier.
Draussen – ein neckisches Detail – parkt ein Audi mit dem Nummernschild G 1927, G für Genscher, 1927 für sein Geburtsjahr. Als Vertreter der alten Bundesrepublik hat Genscher Sympathie für die Schweiz, wie sie auch Helmut Kohl hatte. Nicht nur für uns Journalisten aus der Schweiz ist eine Ehre, den Staatsmann zu treffen.
Lob für «kluge Politik» der Schweiz
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«Für mich auch», sagt er. Denkt er an die Schweiz, denkt er «an ein Land, das immer eine sehr kluge, schweizerische Politik gemacht hat, und dessen Einwohner ich oft beneidet habe für die Klugheit, mit der dieses kleine Land in einem Weltkrieg, der Europa überzogen hat, es vermocht hat, diese Unabhängigkeit zu bewahren».
Das sind Freundlichkeiten, aber nicht nur. Auch das heutige Berlin hat Sympathien für die Schweiz, aber nicht dieselbe geografische und eben auch emotionale Nähe wie es die Bonner Republik hatte. Aber mit dem aktuellen bilateralen Verhältnis mag sich der 88-Jährige nicht mehr beschäftigen. Das ist Thema beim morgigen Besuch von Angela Merkel in der Schweiz.