SRF News: 36'000 Menschen sitzen in Griechenland fest. Das ist eine immens hohe Zahl. Was heisst das für das Land?
Corinna Jessen: Die Lage ist desolat, die Zahl der Flüchtlinge steigt täglich, der Strom aus der Türkei reisst nicht ab. Das finanziell schwache Griechenland ist völlig überfordert, all die Menschen unterzubringen.
Wie reagiert die Regierung in Athen?
Sie hat die Öffentlichkeit seit Wochen darauf eingestimmt, dass Griechenland mit einer grossen Zahl von Flüchtlingen rechnen muss – nicht mehr nur als Transitland sondern dauerhaft. Man hat die Grenzschliessung also vorhergesehen.
Athen und Brüssel streiten sich darüber, inwiefern die Entscheidung der Schliessung der Balkanroute ein gemeinsamer Entscheid der 28 EU-Mitgliedstaaten gewesen sei.
EU-Ratspräsident Donald Tusk sprach am Mittwoch in einem Tweet von einem gemeinsamen Entscheid. Griechenlands Premier Alexis Tsipras dementierte die Information umgehend. Er betont, dass die westlichen Balkanländer ihre Grenzen im Alleingang und gegen die europäische Idee geschlossen hätten.
Innenpolitisch ist diese Unterscheidung sehr wichtig.
Ja, denn sollte auch Athen der Schliessung der Balkanroute zugestimmt haben, würde diesem Entscheid der Ruch eines zweifelhaften Deals anhängen: Griechenland übernimmt die gestrandeten Flüchtlinge und bekommt dafür Gegenleistungen, zum Beispiel in Form von Erleichterungen in der Schuldenfrage. Das sind aber Spekulationen.
Sollte auch Athen der Schliessung der Balkanroute zugestimmt haben, würde diesem Entscheid der Ruch eines zweifelhaften Deals anhängen.
Schon jetzt haben viele Flüchtlinge keinen Platz und campieren im Freien. Diese Situation verschärft sich noch.
Die notdürftig geschaffenen Lager sind völlig überfüllt. In den olympischen Sportstätten auf dem alten Athener Flughafen wurden ursprünglich 1200 Personen notdürftig untergebracht. Inzwischen sind es aber schon doppelt so viele. Die Sanitäranlagen und die Essensrationen reichen nicht mehr aus.
Das ist nur eines von vielen Beispielen.
Ja, auch in einem Zeltlager bei Piräus sieht es ähnlich aus. Und im Hafen von Piräus hausen dichtgedrängt tausende Flüchtlinge in alten Abfertigungshallen auf dem nackten Zementboden, in Zelten oder im Freien. Im Zentrum von Athen hat die Polizei kürzlich den Viktoriaplatz räumen lassen. Dort hatten wochenlang vor allem verzweifelte Afghanen im Freien campiert. Das Ergebnis solcher Räumaktionen ist allerdings, dass die Menschen nun in den Seitenstrassen weilen. In der Hoffnung, doch noch einen Weg nach Norden zu finden, wollen sie in der Stadt bleiben und nicht in die überfüllten Lager gehen.
Nun plant die Regierung in Athen die Schaffung neuer Lager.
Mit landesweit 15 neuen Lagern für rund 17‘000 Personen in alten Fabriken, Schulen, Kasernen und Hotels will Griechenland nun schnellstens eine besser kontrollierte Struktur schaffen. Für Migranten, deren Abschiebung beschlossen wurde, sollen auch sechs Haftlager wieder in Betrieb genommen werden. Mit dieser Massnahme bricht Tsipras ein Wahlversprechen. Seine Regierung hatte die Haftlager nach dem Wahlsieg geschlossen und alle Migranten entlassen – sich selbst überlassen.
Athen hofft wohl auch auf Erleichterungen bei der Umsetzung der Sparauflagen.
Die Unterbringung und Betreuung der Flüchtlinge kostet viel Geld. Die EU will Griechenland hierfür Hilfsgelder überweisen. Reicht das?
Kaum. Athen hofft neben dieser direkten finanziellen Unterstützung wohl auch – wie schon gesagt – auf Erleichterungen bei der Umsetzung der Sparauflagen. Auch wenn das immer wieder dementiert wird.
Die Regierung sagt, Griechenland könne bis zu 150'000 Flüchtlinge versorgen.
Die meisten Regierungsmitglieder sagen, die Situation sei zwar schwierig, doch man werde sie in den Griff bekommen. Die griechische Regierung hat schon fast den Slogan der deutschen Kanzlerin Angela Merkel übernommen: «Wir schaffen das!». Gemeinden und Lokalverwaltungen werden dazu aufgerufen, Unterbringungsmöglichkeiten bereitzustellen. Neben der wirklich beeindruckenden privaten Hilfsstrukturen sollen endlich auch öffentliche geschaffen werden. Doch regt sich in den Gemeinden meist Widerstand gegen ein mögliches Lager für Flüchtlinge. Der reicht von der Besetzung des Geländes bis hin zu Brandanschlägen auf geplante Unterkünfte.
Das Gespräch führte Tina Herren.