Darum geht es: Wieder und wieder wird in Syrien Giftgas eingesetzt. Zwar ist noch nicht bewiesen, wer für den jüngsten Giftgaseinsatz verantwortlich ist, doch vieles deutet auf die syrische Regierung hin . Vorwürfe gibt es auch an die Adresse Russlands; und nun erreicht die Kritik jene Organisation, die dafür verantwortlich ist, das internationale Chemiewaffenverbot von 1997 weltweit durchzusetzen: die OPCW in Den Haag. Die amerikanisch-russische Konfrontation droht das bis anhin äusserst breit abgestützte Verbot zu schwächen.
Die amerikanische Sicht: Schuld am Giftgasangriff in Chan Scheichun ist das Assad-Regime. «Daran gibt es keinen Zweifel», sagte US-Aussenminister Rex Tillerson. Die meisten westlichen Regierungen äussern sich ähnlich, wenngleich vorsichtiger. Für Washington ist jedoch auch Moskau mitverantwortlich für die grausame Tat: «Das wahre Versagen ist dasjenige Russlands: Es ist seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen, Damaskus vom Einsatz von Chemiewaffen abzuhalten», so Tillerson.
Die russische Sicht: Wer sei zuerst am Ort des Geschehens gewesen, wurde im russischen Fernsehen in anklagendem Ton gefragt: die syrischen Weisshelme, also eine den Rebellen nahestehende Hilfsorganisation. Das sei doch verdächtig. Ein russischer Militärsprecher brachte eine Version in Umlauf, in der zwar von einem syrischen Luftangriff die Rede ist, allerdings nicht mit Giftgas. Vielmehr sei bei dem Angriff ein Lager in die Luft geflogen. Dort hätten die Rebellen, die Russland als Terroristen bezeichnet, Giftgas gelagert.
Die Rolle der OPCW: Die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (englisch: Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons, OPCW) ist eine unabhängige internationale Organisation. Gegründet wurde sie durch die Vertragsstaaten der Chemiewaffenkonvention, die 1997 in Kraft trat. Für das Aufspüren, den Abtransport und die Vernichtung der syrischen chemischen Kampfstoffe erhielt die OPCW 2013 den Friedensnobelpreis. Ihr Chef, Ahmet Üzümcü, sieht im Chemiewaffenverbot das «Bollwerk gegen diese unmenschliche Massenvernichtungswaffe», wie er zur Feier des 20-jährigen Bestehens des Verbots erklärte.
Vorwürfe an die OPCW: Neuerdings wird die Chemiewaffenbehörde von Medien und Menschenrechtsorganisationen kritisiert: Wie könne es sein, dass in Syrien weiter Giftgas eingesetzt werde – obschon die OPCW das Land für chemiewaffenfrei erklärt habe? Syrien ist aus Sicht der Chemiewaffenbehörde eine Tragödie – und wird zunehmend zur Belastung für die Organisation selbst. In einer aktuellen Studie des ETH-Zentrums für Sicherheitspolitik steht: «All dies könnte zu einer politischen Konfrontation zwischen den Vertragsstaaten führen, welche das Chemiewaffenverbot schwächen würde.»
Die Grenzen der OPCW: Die Kritik an der OPCW ist jedoch nur zu einem geringen Teil berechtigt. Dafür etwa, dass das Kontrollregime nicht unfehlbar ist, kann die Organisation nichts. Es basiert auf einem Kompromiss unter den Vertragsstaaten. Die ETH-Forscher schreiben: «Von Beginn weg war klar, dass das System routinemässiger Inspektionen nicht wasserdicht ist.» Auch kann der OPCW nicht angelastet werden, dass Chlorgas, das in Syrien wiederholt eingesetzt wurde, nicht auf der Liste der verbotenen Substanzen steht. Es findet breite industrielle Verwendung, lässt sich also nicht einfach verbieten. Der Gebrauch von Chlorgas als Waffe ist aber sehr wohl untersagt.
Diktatorische Versteckspiele: Wenn ein Land Teile seiner Chemiewaffenarsenale versteckt, wie das schon Libyens Diktator Muammar al-Gaddafi tat und nun das syrische Regime, haben die Inspektoren aus Den Haag wenig Chancen, dem auf die Schliche zu kommen. OPCW-Chef Üzümcü räumt ein, es gebe Lücken in der syrischen Selbstdeklaration: Man versuche, die Ungereimtheiten aufzuklären, sagt der langjährige türkische Diplomat. Geschafft hat die Organisation das noch nicht.
Der Spaltpilz Syrien: Eigentlich ist die Chemiewaffenbehörde handlungsfähiger als der Uno-Sicherheitsrat. Dort kann Russland mit dem Veto jegliche Schritte gegen seinen Schützling Assad verhindern – und tut es auch. Im OPCW-Exekutivrat hingegen sind Beschlüsse mit Zweidrittelsmehr möglich. Traditionell jedoch fielen Beschlüsse stets im Konsens. Man war so zwar weniger entscheidungsfähig, hatte dafür aber alle 192 Mitgliedstaaten an Bord. Syrien droht nun, die OPCW zu spalten, so die ETH-Forscher: «Die Debatte um die Frage, wie auf diesen Missstand zu reagieren ist, hat die Vertragsstaaten politisiert und entzweit.»