Über drei Millionen Menschen haben in Brasilien für die Absetzung von Staatschefin Dilma Rousseff demonstriert. «Dilma raus», riefen die Regierungsgegner, die sich am Sonntag in der Hauptstadt Brasília und rund 400 anderen Städten des Landes versammelten.
Sie machten lauthals ihrem Ärger über eine riesige Korruptionsaffäre sowie den wirtschaftlichen Abschwung Brasiliens Luft. Die höchste Teilnehmerzahl, laut Polizei eine «historische» Menge von etwa 1,4 Millionen, wurde in Brasiliens grösster Stadt São Paulo beobachtet. In der Hochburg der Opposition strömten auf einer der Hauptstrassen riesige Menschenmengen zusammen.
«Wir werden jetzt mit dem Wandel starten»
Die Stimmung war friedlich, einige Demonstranten brachten ihre Kinder mit. «Wir befinden uns in einem entscheidenden Moment für unser Land», sagte Rogerio Chequer, ein Anführer der Organisation Vem Pra Rua, die die Proteste mitorganisierte. «Wir werden jetzt mit dem Wandel starten.»
Die 61-jährige Rentnerin Rosilene Feitosa sagte: «Ich bin gekommen, weil ich es müde bin, so viel Korruption zu sehen und weil ich die Unordnung beenden will, die dieses Land beherrscht.»
In der Hauptstadt Brasília versammelten sich nach Polizeiangaben rund 100'000 Demonstranten vor dem Abgeordnetenhaus. Der Protestzug wurde von einem massiven Sicherheitsaufgebot begleitet.
«Ihre Zeit ist vorbei»
In Rio de Janeiro führte der Protestzug über den berühmten Strand Copacabana, die Teilnehmer sangen und tanzten zu Sambaklängen. Buhrufe wurden laut, als ein Kleinflugzeug mit einer Banderole über die Menge hinwegflog, auf der zu lesen stand, dass es «keinen Staatsstreich geben» werde.
Nach unbestätigten Angaben der Organisatoren beteiligten sich in Rio de Janeiro fast eine Million Menschen an der Demonstration. «Wir müssen Dilma, die Arbeiterpartei, das Ganze loswerden», sagte die 73jährige Maria do Carmo, die wie viele andere Protestteilnehmer eine Brasilien-Flagge schwenkte: «Ihre Zeit ist vorbei». Auch in Curitiba (160'000), Fortaleza (150'000) und Recife (120'000) gab es laut Medienberichten einen grossen Zulauf.
Rousseff kam am Sonntagabend in Brasília mit ihren wichtigsten Ministern zusammen, um über die Lage zu beraten. In einer vom Büro der Präsidentin veröffentlichten Erklärung wurde der «friedliche» Verlauf der Proteste gelobt. Vorab hatte Rousseff vor gewaltsamen Auseinandersetzungen bei den landesweiten Protesten gewarnt.
Nur zehn Prozent Zustimmung für Rousseff
Erstmals seit Beginn der Proteste gegen Rousseff beteiligten sich die Oppositionsparteien aktiv an den Demonstrationen. Die rechte Opposition hofft, durch die Massenproteste den Druck auf die Abgeordneten zu erhöhen, damit diese für eine Amtsenthebung der Präsidentin stimmen. Rousseffs Mandat läuft regulär bis Ende 2018.
Die Zustimmungswerte der linksgerichteten Staatschefin liegen mittlerweile nur noch bei knapp zehn Prozent, für ihre Amtsenthebung sind laut Umfragen rund 60 Prozent der Brasilianer. Sie wird unter anderem für die schlimmste Rezession in Brasilien seit Jahrzehnten verantwortlich gemacht.
Vorwürfe gegen Ex-Präsident Lula
Die jüngsten Korruptionsermittlungen gegen ihren Vorgänger und Parteifreund Luiz Inácio Lula da Silva bringen Rousseff weiter in Bedrängnis. Lula war vergangene Woche im Zusammenhang mit der Korruptionsaffäre um den Ölkonzern Petrobras verhört worden. Dabei ging es um eine Luxuswohnung in der Küstenstadt Guarujá im Bundesstaat São Paulo, deren Besitz er den Behörden verschwiegen haben soll. Lula gibt an, nicht der Eigentümer der Wohnung zu sein.
Die konservative Opposition wirft Rousseff vor, ihren Wahlkampf 2014 illegal mit Spenden von Zulieferern des Energiekonzerns Petrobras finanziert und den Haushalt 2014 sowie im ersten Halbjahr 2015 geschönt zu haben. Ein Gericht erklärte den Etat im vergangenen Oktober wegen zahlreicher Unregelmässigkeiten für illegal. Doch ein Amtsenthebungsfahren gegen Rousseff wurde vom Obersten Bundesgericht vorläufig gestoppt.
Ermittlungen gegen 57 Politiker
Das Land ist in einer tiefen wirtschaftlichen und politischen Krise, hinzu kommt ein grosser Korruptionsskandal. Den für die Ermittlungen zuständigen Richter Sérgio Moro feierten viele Demonstranten. Allein gegen 57 Politiker wird mittlerweile ermittelt. Dabei geht es um Schmiergeldzahlungen an Politiker bei Auftragsvergaben des halbstaatlichen Ölkonzerns Petrobras.
Rousseffs Amtsvorgänger und Förderer Luiz Inácio Lula da Silva droht mittlerweile auch eine Anklage. Gegen ihn laufen mehrere Verfahren, er bestreitet bisher alle Vorwürfe.
Koalitionspartner setzt Frist
Bei einem Parteitag der Partido do Movimento Democrático Brasileiro (PMDB) votierten die Delegierten dafür, dass die Führung um Vizepräsident und Parteichef Michel Temer innerhalb von 30 Tagen eine endgültige Entscheidung über einen Koalitionsbruch treffen soll.
Das Land ist durch die politische Krise gelähmt. Zudem ist die Wirtschaftsleistung eingebrochen, die Arbeitslosenzahl liegt bei über neun Millionen.