SRF: Die Muslimbrüder haben ihren Marsch auf die Militärgeheimdienst-Zentrale in der Nacht auf Montag abgebrochen und sind ins Protestcamp zurückgekehrt. Heisst dies, dass die Islamisten auf weitere Provokationen verzichten wollen?
Tomas Avenarius: Das glaube ich nicht. Die Muslimbrüder verfolgen eine klare Strategie der gesteuerten Eskalation. Sie provozieren das Militär gezielt. Und gerade jetzt – vor dem Besuch der EU-Aussenbeauftragten Catherine Ashton und angesichts der internationalen Kritik an der Eskalation der Situation – haben sie gezeigt, dass sie die Vernünftigen sind und einlenken. Die Muslimbrüder werden diese Strategie weiterverfolgen und wohl auch in den nächsten Tagen Tote in Kauf nehmen – das passt in ihr Konzept. Dabei werden sie versuchen, als die friedliche Kraft dazustehen – im Gegensatz zu Militär und Polizei, die auf Demonstranten schiessen.
Was ist das Ziel der Muslimbrüder mit ihrer Eskalations-Strategie?
Die Lage der Muslimbrüder ist sehr aussichtslos, sie sind in ihren beiden Protestcamps quasi eingeschlossen. Auch vertreten sie nur noch eine Minderheit der Bevölkerung – wenn auch eine relativ grosse Minderheit. Bedroht von Verhaftung und Auflösung müssen sie versuchen, irgendwie politisch zu überleben. Das ist sehr schwierig. Am Ende müssen sie darauf hin arbeiten, dass die Regierung und damit die Armee mit ihnen reden muss. Das will der Staat bisher nicht. Deshalb diese Politik des Ausharrens, des Demonstrierens und der Opferhaltung.
Wie wird eigentlich die Gewaltanwendung der Sicherheitskräfte bei den Gegnern der Muslimbrüder diskutiert?
Meiner Meinung nach herrscht in Ägypten schon beinahe eine Pogrom-Stimmung gegen Islamisten. Die Erklärung der Regierung, dass es sich bei ihnen zum grössten Teil um Terroristen handle, wird einfach so hingenommen, obschon das so natürlich nicht stimmt. Die Stimmung hat extrem gedreht: die Leute haben schon Poster von Armeechef al-Sisi an den Autos hängen. Es herrscht der Wunsch nach einem starken Mann vor, der all die Probleme nach der Revolution löst. Die Stimmung richtet sich dabei extrem gegen die Islamisten. Erstaunlicherweise weiss die Armee im Moment auch die Tahrir-Jugend hinter sich. Allerdings fängt diese langsam an, umzudenken. Sie fragt sich: Wollen wir den alten Polizeistaat wieder, nur um die Muslimbrüder loszuwerden?
Wie erfolgversprechend sind die angekündigten Krisengespräche mit der EU-Aussenbeauftragten Ashton?
Die Muslimbrüder beharren ganz klar darauf, dass Mohammed Mursi der legitime Präsident ist. Der Staat seinerseits hat überhaupt kein Interesse daran, die Muslimbrüder am politischen Geschäft zu beteiligen. Deshalb wird Mursi nicht gesichtswahrend offiziell zurücktreten und die Macht an die jetzige Regierung übergeben. Insofern halte ich die Erfolgsaussichten für sehr gering.
Das Interview führte Anna Lemmenmeier für Radio SRF 4 News