SRF News: Gab es solche Befriedungsaktionen nicht schon mal vor der Fussball-WM 2014?
Ulrich Achermann: Ja, das hat es damals gegeben. Dass man jetzt nachhaken muss, das zeigt, dass die Ergebnisse dieser Befriedung zwiespältig ausgefallen sind. In einigen der grossen Favelas in Rio kommt es fast täglich wieder zu Gefechten zwischen der Polizei und Drogenbanden, die nach offizieller Darstellung aus diesen Armenvierteln ja vertrieben worden sind.
Amnesty International wirft der Polizei in Rio vor, sie habe Hunderte von Menschen bei der so genannten Befriedung der Favelas ermordet. Was ist an den Vorwürfen dran?
Da ist ziemlich viel dran. Die Polizei geht in den Favelas grundsätzlich brutal vor und handelt sehr oft auch ausserhalb des Gesetzes. Vielleicht kann man es so zusammenfassen: Es wird zuerst geschossen, und dann gefragt. Ein Problem der Polizei oder einzelner Beamter ist, dass sie korrupt sind und im Sold der Drogenmafia stehen. Wenn ein Angehöriger einer rivalisierenden Bande erschossen wird, dann heisst es einfach, das Opfer habe Gegenwehr geleistet oder habe zu flüchten versucht. Die Führung der Polizei kennt dieses Problem. Sie kämpft dagegen an, indem sie jene Beamte prämiert und fördert, die am wenigsten Patronen verschiessen.
Gibt es Zahlen, wie viele Menschen durch diese Befriedungsaktionen in den Favelas ums Leben gekommen sind?
Nein. Es gibt keine glaubwürdigen Zahlen. In Rio weisen die Behörden darauf hin, dass die Zahl der Gewaltdelikte markant am Zurückgehen sei. Verlässt man sich aber auf die eigene Wahrnehmung und konzentriert sich auf die grossen Favelas, so ist dort eher das Gegenteil festzustellen: mehr Schiesslärm als Ruhe. Die neusten Zahlen sind vielleicht auch etwas schöngefärbt im Hinblick auf die Olympischen Spiele.
Kann die Regierung die Favelas nicht ohne Gewalt befrieden?
Der Staat begegnet den Menschen in den Favelas immer noch wie Untertanen, nicht wie Bürgern.
Nein, es gibt keine anderen Konzepte als Gewalt. Das erklärt auch, warum immer wieder Verbrecher quasi Staatsfunktionen übernehmen. Ich glaube, man hat den Zusammenhang von städtischer Armut, Gewalt und gesetzlosen Räumen einfach viel zu lange verdrängt. Zuletzt mussten die Behörden dann die Polizei in die Favelas schicken und der Zentralstaat machte etwas Geld für soziale Investitionen locker. Aber eine ineinandergreifende, Bildungs-, Freizeit- und Jugendpolitik mit Berufs- und Lebensperspektiven für junge Leute lässt bis heute auf sich warten. Der Staat begegnet den Menschen in den Favelas immer noch wie Untertanen, nicht wie Bürgern. Ab und zu gibt’s mal Almosen, aber eben nicht mehr.