Bereits als der 23-jährige Faraidun noch für die Taliban kämpfte, warb die Terrorruppe «Islamischer Staat» (IS) um ihn. Vor ein paar Monaten traf Faraidun einen Stammesführer im afghanischen Nangarhar, der der Terrorgruppe seine Loyalität geschworen hatte. Der Stammesführer habe ihm gesagt: «Wieso kämpfst du mit diesen Taliban, komm zum IS, so werden wir ein grösseres Gebiet erobern und mehr Macht haben.»
Heute ist der sogenannte IS in Afghanistan eine Realität.
Der Stammesführer bekam viel Unterstützung vom «Islamischen Staat». Erst kürzlich hätten die Taliban zwei seiner Pick-ups voller Waffen und Munition beschlagnahmt, erzählt Faraidun. Er hatte die Taliban im vergangenen Winter verlassen, weil ihm die Regierung Geld, eine Arbeit und ein normales Leben versprochen hatte.
In Afghanistan gebe es nur Platz für eine Flagge unter einer Führung, drohte die Taliban-Führung im Juni. Heute sei der sogenannte IS in Afghanistan eine Realität, sagt Borhan Osman. Er beobachtet für das Recherche Institut Afghanistan Analyst Network radikale Gruppen in dem Land. Die Stärke des Terrororganisation schätzt er in Afghanistan auf mehrere Hundert Kämpfer. Die meisten davon würden sich in Nangarhar befinden.
Taliban ist eine nationale Bewegung
In der Führungsriege des IS in Afghanistan sitzen vor allem unzufriedene Taliban, die abgewandert sind. Manche sind idelogische Hardliner, Salafisten, denen die Taliban zu wenig radikal sind. Andere sind Opportunisten und fühlen sich von der Marke IS und dessen Propaganda und Geld angezogen. Der IS hat den Status, die reichste Terrorgruppe zu sein.
Heute wirken die Taliban, die selbst brutal und selbstherrlich sind, neben dem IS ironischerweise als geradezu umgänglich. Sie gehören einer gemässigteren islamischen Schule an als die Salafisten des IS. Und sie hegen keine Expansionsgelüste, sondern sind eine nationale Bewegung, die vor allem eines will: dass die ausländischen Truppen abziehen und Afghanistan wieder ein islamisches Emirat wird.
Mit diesem Ziel liefern sich die Taliban weiterhin blutige, verlustreiche Kämpfe mit den afghanischen Regierungstruppen. Doch es herrscht eine Patt-Situation. Der Sieg ist weder für die Taliban noch für die Regierungstruppen in Griffnähe. Das ist ein Grund, weshalb sich Vertreter der Taliban und der afghanischen Regierung diesen Monat zu Gesprächen in Pakistan getroffen haben. Noch sind es keine offiziellen Friedensgespräche, aber es könnten welche daraus entstehen.
Der IS will Leute mit Kampferfahrung und Ortskenntnissen.
Für Afghanistan würde ein erfolgreicher Friedensprozess weniger Gewalt und mehr Stabilität bedeuten. Doch auch der IS könnte damit gestärkt werden, sagt Graeme Smith von der International Crisis Group in Kabul. «Es gibt diese Verrückten innerhalb der Taliban, die sich weigern, die Waffen nieder zu legen», sagt er. Laut afghanischen Geheimdiensten sind das etwa zehn Prozent der Taliban. Diese Hardliner könnten bei Friedensgesprächen dem Islamischen Staat beitreten.
Auch der ehemalige Taliban-Kommandant Faraidun denkt darüber nach, sich dem IS anzuschliessen. Denn die afghanische Regierung habe ihr Versprechen auf Arbeit und ein normales Leben nicht gehalten. Der IS sei für Leute wie ihn gute Neuigkeiten, sagt Faraidun. «Einem wie mir würden sie bestimmt 1000 Dollar pro Monat zahlen. Die wollen Leute wie mich, mit Kampferfahrung und Ortskenntnissen.» Davon gibt es in Afghanistan viele.