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Fahnenträger des IS.
Legende: Gsteiger: «Der dschihadistische Terrorismus wird weiter wüten, vielleicht unter einem neuen Namen.» Keystone

International Ist der IS bald am Ende? 10 Fragen, 10 Antworten

Die amerikanische Luftwaffe bombardiert Stellungen der Terrormiliz IS in Libyen. Dies auf Bitte der Regierung in Tripolis. Nun gelang es Milizen, die mit der Regierung zusammenarbeiten, das IS-Hauptquartier in der Stadt Sirte zu erobern. Der sogenannte «Islamische Staat» verliert in Libyen an Boden.

1. Ist Libyen nun befreit vom IS-Terror?

Gsteiger: Nein. Aber der IS ist geschwächt. Doch die meisten der rund tausend aus ihrem Hauptquartier in Sirte vertriebenen IS-Kämpfer sind noch in der Stadt. Trotzdem: Erstmals errangen die Gegner des sogenannten «Islamischen Staates» in Libyen einen wichtigen Erfolg.

2. Wie sehr ist der IS militärisch in seinen Stammlanden Irak und Syrien geschwächt?

Gsteiger: Er ist weitaus schwächer als zu seinen erfolgreichsten Zeiten 2014. Im Irak verlor die Terrormiliz fast fünfzig Prozent ihres Territoriums. In Syrien gegen dreissig Prozent. Der Gebietsverlust ist ein Gesichtsverlust. Und wirtschaftlich ein Problem. Der IS verlor Ölquellen und Unterjochte, von denen er Steuern und Zölle erpressen konnte.

3. Wie sehr ist der IS geschwächt, weil mehrere seiner Führer in den vergangenen Monaten umkamen?

Gsteiger: Zwar wurden in der Tat wichtige Führungsfiguren von den IS-Gegnern getötet. Doch die Spitze des Kalifats wackelt nicht. Für die meisten Chargen stehen Nachfolger bereit. Es sind oft Militärs, die früher dem irakischen Diktator Saddam Hussein dienten und nach dessen Sturz kaltgestellt wurden.

4. Gelingt es der Terrormiliz weiterhin, in grosser Zahl Ausländer zu rekrutieren?

Gsteiger: Nein. Er will das auch gar nicht mehr. Die zeitweilig enorm hohe Zahl von 30'000 Kämpfern aus rund hundert Ländern sinkt. Die Attraktion, in Syrien und im Irak zu kämpfen, war erheblich grösser, als der IS von Sieg zu Sieg eilte. Der IS ermuntert zurzeit Sympathisanten eher, in westlichen Ländern Terrorattentate durchzuführen und schickt bisherige Syrien-Kämpfer in ihre Heimatländer zurück. Vor allem in Grossbritannien und Deutschland hätte die IS-Führung gerne mehr willige Attentäter.

5. Kann der IS ausserhalb des Nahen Ostens, in muslimischen Teilen Afrikas oder Asiens, stärker Wurzeln schlagen?

Gsteiger: Zum Teil gelingt ihm das schon. Etwa in Nigeria, wo der IS mit der lokalen Terrororganisation Boko Haram zusammenarbeitet. Vor wenigen Tagen meldeten indonesische Geheimdienste, sie hätten einen Grossanschlag auf Singapur verhindert. In zahlreichen andern Ländern versucht die Terrormiliz, Wurzeln zu schlagen. Länder, wo das Regierungssystem funktioniert, sind jedoch für den IS ein schwierigeres Pflaster als gescheiterte Staaten («failed states») wie Syrien, Irak oder Libyen.

6. Zielt die IS-Strategie künftig primär auf Terrorangriffe im Westen?

Gsteiger: Ja, offenkundig. Je schwerer sich der «Islamische Staat» militärisch tut, umso mehr verlegt er sich auf die Terrortaktik. Während die IS-Propagandamedien bis vor kurzem ständig Siege verkündeten, reden sie nun militärische Niederlagen und Gebietsverluste klein. Im «Newsletter» «al-Naba» stand neulich: «Glaubst Du, Amerika, tatsächlich, dass es eine Niederlage für uns ist, wenn wir eine Stadt oder ein Gebiet verlieren?» und weiter: «Wer unser Land nimmt, bricht noch längst nicht unseren Willen.» So werden die Anhänger auf den Strategiewechsel vorbereitet. Allerdings: Längst nicht alle der jüngsten Attentate in Europa und den USA wurden wirklich vom IS geplant. Manche waren allenfalls von der IS-Gewaltideologie inspiriert.

7. Sind die IS-Attentäter tatsächlich «Soldaten der Terrormiliz» – oder vor allem psychisch labile Menschen?

Gsteiger: Beides. Es gibt Kämpfer, die für den IS in Syrien und im Irak gemordet haben, und nun nach Europa zurückkehren. Andere Attentäter hatten nie eine enge Beziehung zum IS. Sie radikalisierten sich selber und waren gar nicht religiös motiviert. Auffallend ist, dass der IS gezielt psychisch labile, potenziell gewaltbereite Menschen zu Amokläufen und Terroranschlägen zu bewegen sucht. Die meisten bisherigen Terrororganisationen – von der deutschen RAF bis zu al-Qaida – verstanden sich als Elite und duldeten in ihren Reihen nur Überzeugungstäter. Nicht so der IS.

8. Schleust der IS seine Attentäter primär als Flüchtlinge getarnt nach Europa?

Gsteiger: Die IS-Abteilung für «externe Aktivitäten» versucht, auch den Flüchtlingsstrom zu nutzen, um Attentäter nach Europa zu bringen. Es ist angesichts der Flüchtlingszahlen unmöglich, jeden Einzelfall genau zu prüfen, um festzustellen, ob es sich nicht um einen heimlichen IS-Kämpfer handelt. Doch der Anteil eingeschleuster Terroristen unter den Flüchtlingen ist winzig. Ein Generalverdacht gegen Flüchtlinge ist absurd.

Fredy Gsteiger

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Portrait von Fredy Gsteiger

Der diplomatische Korrespondent ist stellvertretender Chefredaktor bei Radio SRF. Vor seiner Radiotätigkeit war er Auslandredaktor beim «St.Galler Tagblatt», Nahost-Redaktor und Paris-Korrespondent der «Zeit» und Chefredaktor der «Weltwoche».

9. Würde das Ende des IS zugleich das Ende des islamistischen Terrorismus bedeuten?

Gsteiger: Keineswegs. Der IS mag untergehen. Aber der dschihadistische Terrorismus wird weiter wüten, unter einem neuen Namen. Viele gewaltbereite Islamisten schliessen sich jeweils jener «Marke» an, die gerade am erfolgreichsten ist. Früher al-Qaida, zurzeit der IS, morgen jemand anderes.

Terrorattentate auf «weiche» Ziele, sind einfach zu bewerkstelligen. Und potenzielle Attentäter gibt es tausende. Die Saat des radikalen Islamismus geht auf, auch dank jahrzehntelanger Unterstützung durch reiche fundamentalistische Länder wie Saudi-Arabien. Je stärker die Indoktrination, je grösser die Frustration, je schärfer die Ausgrenzung von Muslimen und je gravierender die Jugendarbeitslosigkeit – umso eher werden aus potenziell Gewaltbereiten tatsächlich Terroristen.

10. Bleibt die Schweiz verschont vor dschihadistischen Attentaten?

Gsteiger: Vermutlich nicht. Auch in der Schweiz gibt es Syrien- und Irak-Rückkehrer. Auch hier gibt es IS-Sympathisanten. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass dschihadistische Attentate stattfinden werden. Allerdings ist diese Wahrscheinlichkeit etwas geringer als etwa in Frankreich oder Belgien: Es gibt in der Schweiz weniger islamistische Untergrundnetzwerke, keine muslimische Parallelgesellschaft in Ghettos. Weniger Jugendarbeitslosigkeit und damit weniger Perspektivlosigkeit unter jungen Männern. Und: die Schweiz beteiligt sich nicht militärisch an der Anti-IS-Allianz.

Fragen von Benedikt Widmer.

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