Das Wichtigste in Kürze
- Ein zweiter Konvoi mit 1198 Menschen hat Ost-Aleppo verlassen.
- Erste Flüchtlinge sind in der Rebellenhochburg Idlib angekommen.
- 50'000 Menschen, darunter 40'000 Zivilisten sitzen weiter fest, erklärt die UNO.
- Der UNO-Sondergesandte warnt: Idlib drohe dasselbe Schicksal wie Aleppo.
- Westliche Politiker fordern eine dauerhafte Waffenruhe und sofortigen Zugang für Hilfskräfte.
- IKRK: Evakuierungen aus Ost-Aleppo werden noch Tage andauern.
Nach Beginn der Evakuierung aus Ost-Aleppo hat nach türkischen Angaben ein zweiter Konvoi die umkämpfte nordsyrische Stadt verlassen. 1198 Menschen würden mit diesem zweiten Konvoi in Sicherheit gebracht, hiess es aus türkischen Regierungskreisen.
Bei den 577 Männern, 320 Frauen und 301 Kindern handle es sich um Zivilisten. Darunter seien zwölf Verwundete. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte kurz zuvor vermutlich mit Bezug auf den ersten Konvoi gesagt, 1150 Menschen aus Aleppo seien in der nordsyrischen Region Idlib angekommen. Idlib wird von Rebellen gehalten, die von der Türkei unterstützt werden.
IKRK: Evakuierung wird Tage dauern
Die Evakuierungsmission in den Rebellengebieten von Ost-Aleppo könnte nach Ansicht von Helfern noch Tage dauern.
Bis zum späten Donnerstagabend seien etwa 3000 Zivilisten und einige Verletzte aus der Stadt herausgebracht worden, sagte die Leiterin der Mission des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), Marianne Gasser.
Idlib droht Schicksal wie Aleppo
Im Osten von Aleppo sitzen nach Angaben des UNO-Sondergesandten Staffan de Mistura noch rund 50'000 Menschen fest. Darunter seien etwa 40'000 Zivilisten, die in den Westteil der syrischen Stadt gebracht werden sollten. Bei den übrigen handele es sich um 1500 bis 5000 Aufständische mit ihren Familien. Sie würden sich in die Rebellenhochburg Idlib zurückziehen.
Ohne eine politische Einigung auf eine Waffenruhe, drohe Idlib allerdings dasselbe Schicksal wie Aleppo, sagte de Mistura in Paris im Beisein von Frankreichs Aussenminister Jean-Marc Ayrault.
Dass sich im 21. Jahrhundert so eine Tragödie ereignet, ist eine Schande für die Menschheit
In eine ähnliche Kerbe schlug der türkische Staatspräsident Erdogan. Er warf der syrischen Regierung vor, Hilfe für die eingeschlossenen Menschen in Ost-Aleppo sabotieren zu wollen.
«Das Regime und ihre Unterstützer versuchen, die Umsetzung des Waffenstillstands und die Evakuierung zu verhindern», sagte er in Ankara. «Dass sich im 21. Jahrhundert so eine Tragödie ereignet, ist eine Schande für die Menschheit.» Erdogan fügte hinzu: «Die Massaker, die Brutalitäten und die Gräuel in Aleppo finden vor den Augen der ganzen Welt statt.»
2,8 Mio. syrische Flüchtlinge in der Türkei
In seinen Bemühungen um eine Lösung habe er mit US-Präsident Barack Obama, mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und mehrfach mit Russlands Präsident Wladimir Putin gesprochen. Erdogan betonte erneut die Bereitschaft seines Landes, Flüchtlinge aus Aleppo aufzunehmen. Die Türkei bietet nach offiziellen Angaben bereits knapp 2,8 Millionen Flüchtlingen aus Syrien Zuflucht, mehr als jedes andere Land auf der Welt.
US-Präsident Barack Obama dankte Erdogan für dessen Bemühungen, eine Waffenruhe für das syrische Aleppo zu erreichen. In einem Telefongespräch zeigten sich beide gemäss Weissem Haus einig, dass für Syrien eine landesweite Feuerpause nötig sei und eine politische Lösung gefunden werden müsse.
Zweites Srebrenica verhindern
US-Aussenminister John Kerry fordert eine dauerhafte Waffenruhe für Aleppo und sofortigen Zugang für Hilfskräfte. Er teile den Ärger, den die meisten Menschen angesichts der Attacken auf Frauen, Kinder und Hilfskräfte empfänden, sagte Kerry in Washington. Es gebe keinerlei Rechtfertigung für die Brutalität, die das syrische Regime, die Russen und die Iraner über die vergangenen fünf Jahre an den Tag gelegt hätten, sagte Kerry.
Die fliehenden Menschen dürften keinesfalls attackiert werden, fügte Kerry eindringlich hinzu. Ein zweites Srebrenica – die Tötung einer grossen Zahl von Zivilisten in einem kleinen Gebiet im Konflikt Ex-Jugoslawiens – müsse unter allen Umständen vermieden werden, fügte Kerry hinzu.
Genfer Friedensprozess wiederbeleben
Auch er richtete schwere Vorwürfe an die Adresse des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Die USA blieben bei ihrer Strategie, den Konflikt diplomatisch lösen zu wollen. Der Aussenminister rief alle Beteiligten auf, den Genfer Friedensprozess für ganz Syrien wiederzubeleben. «Wir brauchen jetzt echte Verhandlungen», sagte Kerry.
Harte Kritik gegen Russland und Iran auch von Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel. Sie warf Moskau und Teheran vor, für Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung in der syrischen Stadt Aleppo verantwortlich zu sein. Diese Verbrechen müssten geahndet werden, sagte Merkel nach dem EU-Gipfel in Brüssel.
Aleppo-Bürgermeister: «Kurz davor, massakriert zu werden»
Der Bericht des Bürgermeisters von Ost-Aleppo beim Gipfel der 28 Staats- und Regierungschefs sei «sehr deprimierend» gewesen, fügte sie hinzu. Brita Hagi Hasan, so heisst der Mann aus dem zerstörten Osten der Stadt, hatte die 28 Staats- und Regierungschefs mit seinem Bericht erschüttert. Viele Tausend Zivilisten seien «kurz davor, massakriert zu werden», mahnte er und flehte um Hilfe und die Einrichtung von Versorgungskorridoren.
Wir haben es mit einem Versagen der Vereinten Nationen zu tun
«Es mangelt nicht am Willen und nicht am Geld», sagte Merkel am EU-Gipfel zu den Bemühungen, die Zivilbevölkerung in Syrien zu schützen. «Wir haben es mit einem Versagen des UNO-Sicherheitsrats zu tun», betonte sie. Die Vereinten Nationen müssten wieder handlungsfähig werden.
Für Flüchtlinge aus Syrien habe die Türkei «unglaubliche Verantwortung» übernommen, fügte die Kanzlerin hinzu. Das EU-Türkei-Abkommen zur Flüchtlingspolitik sei auf dem Gipfel ausführlich diskutiert worden. Es müsse «in allen Facetten» umgesetzt werden.