SRF: Die EU-Ratspräsidentschaft dauert nur 6 Monate. Was können Sie in so kurzer Zeit erreichen?
Jüri Ratas: Wir müssen einige Themen übernehmen, die heute während der Präsidentschaft Maltas auf dem Tisch sind. Aber wir haben auch unsere Prioritäten: Die Wirtschaft und – natürlich wie oft in diesem Teil Europas, insbesondere der baltischen Staaten – alle Verteidigungs- und Sicherheitsaspekte. Denn wir erinnern uns, was es bedeutet, mehr als 50 Jahre unter Besatzung zu leben.
Eine andere Priorität wird der digitale Markt sein und der freie Datenverkehr. Aber die wichtigste Frage ist, wie wir den 500 Millionen Europäern zeigen können, dass Europa vorwärts geht.
Die Präsidentschaft Estlands kommt in einem entscheidenden Moment: Nach dem Brexit, der Wahl von US-Präsident Trump und der angespannten Beziehung zwischen der EU und Russland. Sagen Sie sich manchmal: Ich wünschte, unsere Präsidentschaft wäre in einfacheren Zeiten gekommen?
Ich verstehe natürlich, dass es schwierig ist, auch beim Thema Immigration. Aber wenn wir immer nur übers Negative reden, sollten wir doch nie vergessen, warum sehr intelligente Leute diese Europäische Union gegründet haben. Der Grund war einfach: Frieden. Bis heute ist die EU ein Friedensprojekt.
Was ist Russland heute unter Präsident Wladimir Putin: Rivale, Konkurrent oder vielleicht Partner für Europa?
Die Realität ist: Wir haben Sanktionen gegen Russland. Und das wird so bleiben, bis Russland internationales Recht respektiert.
Sie erwarten nicht, dass sich da etwas ändert?
Nein, nicht in nächster Zeit. Da sehe ich keine solche Entwicklung.
Estland hat eine lange, teils schwierige Geschichte mit Russland. Könnte das ein Vorteil sein für Europa? Niemand kennt Russland besser.
Natürlich. Sie sind unsere Nachbarn. Wir können Estland auf der Landkarte nicht verschieben. Wir dürfen nie vergessen, wofür der Staat Russland heute steht.
Und wofür steht er?
Er steht dafür, dass sich ein Land andere Länder einfach nimmt – ganz oder teilweise. Schauen Sie sich Georgien an, oder die Situation in der Ukraine.
Muss Estland sich Sorgen machen wegen Russland?
So würde ich das nicht ausdrücken; Sorgen nicht, aber ich kann sagen: Wir lassen Russland keinen Tag aus den Augen.
Sie sind der erste Premier, der auch von der russisch-stämmigen Minderheit in Estland unterstützt wird. Könnten Sie so den Dialog zwischen Moskau und Brüssel fördern?
Ich denke, das spielt hier keine grosse Rolle. Die Esten mit russischen Wurzeln wollen ganz klar hier leben, in einem unabhängigen Estland.
Cyber-Angriffe sind aktuell ein grosses Thema, gerade nach allem, was im US-Wahlkampf passiert ist. Befürchten Sie so etwas auch in Estland?
Wir sehen Angriffe im Wahlkampf auch in Europa. Das ist nicht etwas, das täglich stattfindet. Aber wir in Estland wissen, wie real diese Dinge sind.
Ich habe gelesen, dass hier auch Freiwillige bei der Cyber-Verteidigung helfen?
Ja, wir haben Freiwillige, die teilweise in der Privatwirtschaft arbeiten und ihrem Land helfen wollen. Auf Verteidigungs-Fragen kann ich hier aus Sicherheitsgründen nicht weiter eingehen, aber ich kann sagen: Diese Freiwilligen arbeiten täglich, ja stündlich.
Denken sie, dass ihre Erfahrungen auch die EU beleben könnten? Denn Estland ist ja ein ziemlich junger Mitglied-Staat.
Ich hoffe und ich glaube das. Ich denke, wir können unsere Erfahrung einbringen, beispielsweise beim digitalen Markt oder den E-Services, die wir hier in Estland jeden Tag einsetzen.
Dank digitaler Verteidigung und dem konsequenten Einsatz von Technologie in allen Lebensbereichen will Estland seine Zukunft in Freiheit sichern. Welche Rolle spielt dabei die EU?
Ich kann mir Estland weder heute noch in Zukunft ausserhalb der EU vorstellen. Wenn es ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten geben sollte, dann werden wir immer für mehr Europa stehen, für mehr Kooperation. Das ist unsere Rolle, so sehen wir unsere Zukunft.
Das Gespräch führte Arthur Honegger in Tallinn.