- Am 18. April 2015 sank an Schiff mit bis zu 900 Flüchtlingen an Bord vor der libyschen Küste.
- Die meisten Menschen an Bord ertranken.
- Die italienische Regierung liess das Schiff vom Meeresgrund heben, auf Sizilien wird nun versucht, die Leichen zu identifizieren.
- Der Reporter Sandro Mattioli hat eine Reportage über das Flüchtlingsdrama und die Arbeit der Forensiker geschrieben.
SRF News: Die italienische Regierung hat viele Millionen Euro in die Bergung der Opfer investiert. Warum?
Sandro Mattioli: Es gibt dafür wohl mehrere Gründe. Einer davon dürfte ein humanistischer sein: Man wollte den Toten ein Grab geben. Ich vermute aber auch, dass man das Grauen des Kenterns und Sterbens auf der Flucht nach Europa greifbar und sichtbar machen wollte.
Man hoffte möglicherweise auch, dass es sich in den Heimatländern der Flüchtlinge herumsprechen könnte, dass die Reise nicht so ungefährlich ist, wie man denkt. Allerdings bin ich sicher, dass jenen, die den Weg übers Mittelmeer wagen, klar ist, dass die Überfahrt gefährlich ist und ihr Schiff sinken kann. Die Leute nehmen dieses Risiko wohl ganz bewusst in Kauf. Deshalb dürfte diese von der italienischen Regierung angepeilte abschreckende Wirkung wohl ins Leere führen.
Warum ist es wichtig, die Opfer in einer aufwändigen Untersuchung zu identifizieren?
Ich kann Ihnen als Anschauung ein Beispiel aus meiner persönlichen Familiengeschichte erzählen: Mein Grossvater ist mit meiner Grossmutter in die Berge die Ferien gefahren und dort spazieren gegangen. Er kam nie mehr zurück und wurde nie gefunden. Die Grossmutter ist daran praktisch verzweifelt. Sie vermisste es zeitlebens, kein Grab zu haben, an dem sie ihren Mann hätte besuchen können. So ähnlich geht es auch den allermeisten Angehörigen jener Menschen, die auf der Flucht im Mittelmeer ertrinken. Mütter verlieren ihre Kinder oder Männer – und bleiben in völliger Ungewissheit, ob ihre Angehörigen noch leben, oder ob sie noch irgendwo sind.
Sie haben das forensische Team bei der Arbeit besucht. Was haben Sie dort gesehen?
Aus Pietätsgründen hat die italienische Marine – sie leitete diese Operation – nicht zugelassen, dass Aussenstehende bei den Obduktionen dabei sind. Trotzdem habe ich einiges gesehen. Etwa das geborgene Schiff, in dem die 800 Menschen ertranken.
Ich erwartete ein rostiges Wrack. In Wahrheit aber war es ein blau-glänzendes Schiff im Sonnenlicht. Das passte überhaupt nicht zur tragischen Geschichte, welche das Schiff hinter sich hatte. Es sah eher so aus, als ob es bereit wäre, ins Wasser gelassen zu werden und seine Reise anzutreten. Zu wissen, dass in diesem Schiff hunderte Tote lagen, war sehr eindrücklich-abstrakt und eine heftige Erfahrung. Ich konnte auch mit dem Feuerwehrmann sprechen, der die Operation geplant hatte. Er beschrieb etwa ein Skelett eines erwachsenen Menschen, das ein Kind in den Armen hielt. Das geht einem schon nahe.
Das Schiff sah im Sonnenlicht aus, als ob es bereit für seine nächste Reise wäre.
Zwei Schleppern wurde nun in Catania/Sizilien der Prozess gemacht. Für wie wichtig halten Sie diesen Prozess?
Ich halte den Prozess für grundsätzlich richtig. Doch das wirklich Wichtige ist nicht, die ausführenden Leute auf dem Schiff vor den Richter zu bekommen, sondern die Hinterleute. Und da wird es kompliziert: Ermittlungen in Libyen dürften kaum möglich sein. Trotzdem muss geklärt werden, welche Verantwortung die Leute haben, die das Schiff gesteuert haben.
Glauben Sie, dass die Aufarbeitung des vorliegenden Falles des Flüchtlingsdramas vom April 2015 etwas verändern wird?
Ja natürlich. Das Schiff sank am 18. April 2015. Drei Tage später meldete sich ein Schleuser, der schon seit längerem inhaftiert war, bei den Staatsanwälten. Er wolle gegen das Schleuser-System, für das er früher tätig gewesen war, aussagen, liess er mitteilen. In der Folge konnte einer der Top-Schleuser überhaupt im Sudan festgenommen werden.
Das Gespräch führte Isabelle Jacobi.