SRF News: Das Ausmass der Zerstörung ist noch nicht abzusehen. Vermutlich gab es deutlich mehr Tote als bisher bekannt. Wie ist Ihre Einschätzung?
Franz Gähwiler: Ich gehe ebenfalls davon aus, dass im Kathmandu-Tal noch wesentlich mehr Tote geborgen werden. Kaum Informationen haben wir aber darüber, was in den entlegenen Gebieten passiert ist. Ein ehemaliger Mitarbeiter berichtete mir von immensen Schäden. Zum Teil sollen bis zu 80 Prozent der Häuser zerstört worden sein. Da wird noch einiges mehr auf uns zukommen.
Wer hilft denn derzeit in diesen abgeschiedenen Himalaya-Tälern? Sind diese überhaupt zu erreichen?
Im Moment hilft sich die Bevölkerung gegenseitig. Diese Nachbarschaftshilfe funktioniert einigermassen gut. Doch um die entlegensten Regionen zu erreichen, muss man einen vier- bis fünftägigen Fussmarsch zurücklegen. Da wird es noch einige Tage dauern, bis die Rettungskräfte dort eintreffen. Wir versuchen nun, Mitarbeiter in genau diese Distrikte zu schicken, um eine bessere Übersicht zu erhalten.
Derzeit sind in Nepal Hilfswerke aus aller Welt. Wie sieht die Koordination aus, wie sprechen sich die Organisationen ab?
Bereits am Sonntag gab es eine Skype-Konferenz mit alliierten Hilfsorganisationen aus verschiedenen Ländern. Heute Morgen fand dann ein erstes Treffen in Kathmandu statt. Auch am Dienstag ist wieder ein Koordinations-Meeting geplant. Nun hoffe ich einfach, dass auch bei den grossen internationalen Playern gut koordiniert wird, damit es nicht zu Konkurrenz- oder gar Wettbewerbs-Situationen kommt.
Nepal stellt ein Schwerpunkt-Land für die Schweizer Entwicklungshilfe dar. Wieso eigentlich? Weil es auch ein Bergland ist?
Die Ähnlichkeit von der Topographie und vom Klima her spielen sicher eine Rolle. Entscheidender sind aber historische Gründe. Nepal hat bereits in den 1940er Jahren die Schweiz für Unterstützung angefragt. Dann war Nepal das erste Land, in dem Helvetas nach der Gründung im Jahre 1955 Projektarbeit geleistet hat. Dadurch haben sich Beziehungen ergeben. Man kennt die Leute, man kennt das Land.
Nach dem letzten grossen Beben 1934 hiess es mehrfach, es sei nur eine Frage der Zeit, bis das nächste erfolge. Trotzdem waren die Behörden sehr schlecht vorbereitet.
Es stimmt: Aus der Geschichte weiss man, dass alle 75 Jahre in dieser Region mit einem solchen Erdbeben zu rechnen ist. Klar ist, Nepal als Entwicklungsland stand über die letzten Jahrzehnte vor riesigen Herausforderungen. Trotzdem kann ich es nicht ganz nachvollziehen, dass die Behörden nicht mehr getan haben. Es wurden Anfang 2000 zwar Bauvorschriften erlassen, dann aber nicht durchgesetzt oder nicht überprüft. Da hat man schwere, schwere Fehler gemacht.
Weshalb wurden die Baustands denn nicht eingehalten? Welche Rolle spielte die Korruption?
Ich denke, Korruption stand nicht im Vordergrund. Man muss sehen, dass in Nepal von 1996 bis 2006 eine bürgerkriegsähnliche Situation herrschte. Zehntausende Menschen flohen aus den Hügeln nach Kathmandu. Es gab einen gewaltigen Bauboom, der leider sehr ungeplant vonstatten ging. Die Leute wollten möglichst wenig investieren.
Seismologen warnen bereits vor einem noch grösseren Beben.
Kein Land der Welt kann sich auf ein Jahrtausend-Erdbeben dermassen gut vorbereiten, dass kaum Schäden entstehen. Auch die Schweiz hätte da Mühe. Ich bin aber überzeugt, dass beim Wiederaufbau in Nepal wesentlich stärker auf erdbebensicheres Bauen geschaut wird. Doch natürlich wird es auch diesmal wieder Leute geben, die Schlupflöcher suchen, um noch etwas mehr Profit zu erwirtschaften. Es gibt im Land genügend Ingenieure, die genau wissen, wie man erdbebensicher bauen kann. Hoffentlich werden ihre Stimmen durch dieses Drama künftig besser gehört.
Wann wird wieder eine Art Alltag einkehren?
Eigentlich dürfte dies fünf bis zehn Jahre dauern. Aber man sollte die Improvisationsfähigkeit der Nepalesen nicht unterschätzen. Sie sind harte Arbeiter. Das gibt mir Hoffnung, dass vielleicht in zwei bis drei Jahren in den stark betroffenen Gebieten ein einigermassen normales Leben wieder möglich sein wird.