SRF: Was macht die Propagandafilme der dschihadistischen Terrororganisationen für Jugendliche so attraktiv?
Asiem El Difraoui: Zunächst ist es so, dass westliche Medien meist nur die spektakulärsten Ausschnitte aus den Propagandaproduktionen von Al-Kaida oder des «Islamischen Staats» zeigen. Die Filme sind meist aber viel länger und enthalten auch romantische und kameradschaftliche Szenen. In diesen wird vorgetäuscht, dass junge Muslime, die sich dem Wahnsinn des IS anschliessen, an einem grossen Abenteuer teilnehmen. Man möchte den jungen europäischen Muslimen vortäuschen, dass sie zur wahren, kameradschaftlichen Glaubensgemeinschaft gehen und dort ein normales Leben führen oder sich als todesmutiger oder gar todessuchender Kämpfer profilieren können.
Man bietet jungen Menschen, die hier vielleicht weniger gut integriert sind, eine Art Ersatzfamilie?
Ein Hauptbaustein der Anziehungskraft dschihadistischer Gruppen ist, Zugehörigkeit und Identität zu vermitteln. Dabei geht es nicht nur um Jugendliche, die schlecht integriert sind. Es geht auch um solche, die sich in ihrer bisherigen Gemeinschaft einfach nicht wohl fühlen. Ärztetöchter, die aus einer katholischen Familie in Zentralfrankreich kommen, schliessen sich dem sogenannten Islamischen Staat an, weil sie dort – in dieser Anti-Kultur – ein alternatives Leben leben können. Es wird nicht nur ein Gruppengefühl vermittelt, sondern auch etwas Besseres, etwas Anderes zu sein – und gleichzeitig Teil einer weltumspannenden Gemeinschaft.
Auch diesen Jugendlichen sollte doch klar sein, dass Köpfungen und all die anderen schrecklichen Sachen, die im Namen des IS passieren, nicht O.k. sind?
Die Gewalt steht erst am Ende eines ganz langen ideologischen Indoktrinationsprozesses. Darin wird gesagt: ‹Die Gewalttätigen sind nicht wir, das ist der Westen – schaut euch diese grosse Konspiration an; den Palästina-Konflikt, die Bombardierung unschuldiger Muslime in Irak oder in Afghanistan. All dies dient dem Zweck, den Islam auszurotten.› Damit wird dann die eigene Gewalt gerechtfertigt. In den grausamen IS-Filmen, in denen Menschen verbrannt oder enthauptet werden, werden zunächst immer Szenen gezeigt von muslimischen Kindern, die in Folge amerikanischer oder westlicher Bomben leiden. Die Gewalt der Dschihadisten bedarf also einer Gehirnwäsche und einer ellenlangen Rechtfertigungslogik.
Die westlichen Medien zeigen diese Videos ja auch, wenn auch meist gekürzt. Werfen Sie den Medien deshalb eine Art Komplizenschaft mit den Terroristen vor?
Terroristen und Medien leben in einer gewissen Interessengemeinschaft. Je spektakulärer ein Attentat, desto besser verkauft sich ein Blatt oder je mehr Zuschauer haben die TV-Nachrichten. Über Schwarzafrika wird in den westlichen Medien kaum berichtet, Ebola verschwindet geradezu im Vergleich zum «Islamischen Staat». Man sollte die Medienpräsenz der Dschihadisten vielleicht mal umrechnen in Werbekosten: Sie haben es geschafft, Milliarden Euro an Werbeflächen zu gewinnen, indem die Medien immer wieder diese spektakulären Horror-, Kampf und Bedrohungsszenen zeigen. Wir tappen immer wieder in die Medienfalle des IS.
Hat der IS uns diese Medienfalle bewusst so gestellt?
Ja. Die Medienfalle ist so gestellt, dass der sogenannte Islamische Staat die grösstmögliche Medienaufmerksamkeit erhält. Der IS und die Dschihadisten beobachten die westlichen Medien ganz genau und haben verstanden, wie sie funktionieren. Sie versuchen deshalb auch immer wieder, ihren eigenen Horror zu toppen, um wiederum Medienaufmerksamkeit zu kriegen. Zuletzt wurde dies ja nicht mittels Köpfungen erreicht, sondern mit der ganz bewussten Zerstörung von Welt-Kunstschätzen in der vom IS besetzten Stadt Mossul. Hier geht es ganz eindeutig um weltweite mediale Aufmerksamkeit: Wenn das Weltkulturerbe zerstört wird, dann schauen natürlich alle Medien der Welt hin.
Die Kommunikationsstrategie des IS und der Dschihadisten setzt also eigentlich auf die Sensationsgeilheit der westlichen Medien?
Die Dschihadisten wissen ganz genau, an welche Zielgruppen sie sich richten: Zum Teil an den Westen, zum Teil aber auch an die Bevölkerung, die sie kontrollieren und die unter ihrem Joch lebt. Diese Propaganda zur Rekrutierung von neuen Anhängern und Kämpfern sieht ganz anders aus: Der IS versucht sich so darzustellen, dass er in der Lage ist, ein Territorium zu regieren und eine Verwaltung, ein Gesundheits- oder Schulsystem aufrecht zu erhalten. Die Kommunikationsstrategien der Dschihadisten sind also äusserst breit gefächert. Doch hier bei uns reduzieren unsere westlichen Medien sie auf die spektakulärsten Mini-Ausschnitte der Videos, die uns den Dschihadismus und Phänomene wie den «Islamischen Staat» nicht erklären.
Das Interview führte Thomas Gutersohn.