Der Ernstfall wird geprobt. Auf beiden Seiten. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg ist stolz auf die ersten Manöver der neuen schnellen Eingreiftruppen in Osteuropa. Russlands Aussenminister Sergej Lawrow wiederum spricht von der Notwendigkeit, die Armee intensiver zu beüben. Dabei betonen beide Seiten, es gehe selbstverständlich nur um defensive Vorkehrungen.
Vorläufig gilt als sicher: Weder in Moskau noch in den Hauptstädten der Nato-Staaten plant man eine direkte militärische Konfrontation. Davon geht auch Thomas Frear aus. Er hat für das European Leadership Network in London die jüngsten Manöver analysiert.
Er sieht aber eine gefährliche und immer intensivere Abfolge von Aktion und Reaktion, eine sich immer schneller drehende Spirale. Auf beiden Seiten wachse, durchaus nachvollziehbar, das Gefühl der Unsicherheit. Und entsprechend das Bedürfnis, sich militärisch zu wappnen.
Der Feind hat wieder einen Namen
Während nach dem Ende des Kalten Krieges Russland und die Nato ihre Manöver jeweils ohne einen klar in der Übungsanlage identifizierten Feind durchführten, werde dieser Widersacher heute wieder ausdrücklich benannt. Konzipiert seien die Operationen eindeutig gegen die jeweils andere Seite.
Russland bezeichne die Nato wieder ausdrücklich als Gegner, die Nato wiederum richte ihre schnelle Eingreiftruppe klar ersichtlich nach Russland aus.
Die Nato jedoch sieht das anders und reagiert scharf auf die Studie. Die eigenen Manöver dienten einzig der Stabilisierung der Sicherheitslage in Europa. Ausserdem seien sie massvoll und transparent.
Richtig ist, dass die bisherigen russischen Truppenübungen zahlreicher und umfangreicher als jene des Westens waren. An Russlands jüngster Blitzübung im März waren 80‘000 Soldaten beteiligt, an den sogenannten «Schutzschild»-Manövern der Nato im Juni nur 15‘000. Dazu kommt: Die Nato kündigt ihre Manöver gemäss den OSZE-Vereinbarungen frühzeitig an und informiert detailliert; Russland verheimlicht die meisten.
Möglichkeiten einer Konfrontation werden geschaffen
Doch obschon es die Nato nicht wahrhaben will, dominieren die Gemeinsamkeiten. Beide Seiten setzen auf schnelle Mobilisierung, auf Truppenverschiebungen über grosse Distanzen, auf See- und Luftüberlegenheit und auch auf Kämpfe gegen irreguläre Truppen. Das kann, so Frear, zwar durchaus defensiven Zwecken dienen, aber alle Elemente wären auch bei raschen Offensivoperationen nötig.
Die Kriegsgefahr in Europa steigt also. Nicht, weil das die eine oder andere Seite so will. Aber weil auf beiden Seiten die Voraussetzungen für Konfrontationen geschaffen werden. Sind die Voraussetzungen einmal da, kann ein Unfall, ein Zwischenfall, ein Missverständnis einen Krieg auslösen. Einen Krieg, den zu vermeiden oder sogleich wieder zu beenden, Vertrauen und Dialog erfordern würde. Beides fehlt zurzeit weitgehend.