Geschäftiges Treiben im öffentlichen Spital von Srinagar, der Sommerhauptstadt des indischen Teilstaates Kaschmir. Auf wackligen Rollpritschen werden Patienten durch die Gänge geschoben, vereinzelt sieht man junge Männer in Trainingsanzug und dunklen Sonnenbrillen unsicher den Gängen entlang schlurfen.
Die Sonnenbrillen tragen sie nicht, um modisch auszusehen. «In meinem Augapfel sitzt ein Bleisplitter, das Licht blendet mich, auch hier im abgedunkelten Spitalzimmer», sagt ein Patient mit einem tränenden Auge. Neben ihm liegen über dreissig andere Männer in auf der Krankenstation Nummer 8 – Ophthalmologie. Alle mit dunklen Sonnenbrillen auf der Nase.
Erblinden verhindern
Mittlerweile sei es ruhiger, doch als die Proteste gegen die indische Regierung Anfang Juli begannen, stiess die Abteilung an ihre Grenzen, sagt Tariq Qureshi, der leitende Augenarzt. Am ersten Tag kamen 20 Patienten mit Augenverletzungen, am zweiten waren es 110. Mittlerweile haben die Ärzte in Srinagar Bleikugeln aus mehreren tausend Körpern operiert, 500 Patienten allein mit Verletzungen an den Augen. «Wahrscheinlich wird keiner von ihnen je wieder zu 100 Prozent sehen können. Unser Ziel ist es, sie vor dem Erblinden zu retten», sagt der Arzt.
Auslöser der Proteste war die Tötung von Burhan Wani durch die indischen Sicherheitskräfte am 8. Juli. Wani war der Anführer einer Untergrundmiliz und sehr beliebt bei der Jugend, weil er über soziale Medien Propaganda für ein unabhängiges Kaschmir verbreitete. Sein Tod löste die schwersten Unruhen in Kaschmir seit sechs Jahren aus.
900 Bleikügelchen pro Geschoss
Die Stimmung ist angespannt. Um die oft gewalttätigen Demonstranten zu vertreiben nutzt die Polizei sogenannte Blei-Pellets ein. Wenn eine solche Patrone explodiert, schleudert sie 900 Bleikügelchen auf sein Ziel. Diese schrotartigen Waffen seien «das letzte Mittel», um gegen die Demonstranten vorzugehen, erklärt Rejesh Yadav, der Sprecher der Nationalen Polizeitruppen in indischen Bundesstaat Kaschmir.
Das klingt beschönigend, wenn man bedenkt dass die Polizei in knapp zwei Monaten nach eigenen Angaben über 3500 dieser Pellet-Patronen abfeuerte. Oft habe die Polizei keine andere Wahl, «denn die Jugendlichen hier sind beinahe immun gegen Tränengas», versucht Polizeisprecher Yadav glaubhaft zu machen. Die Polizisten zielten nicht auf die Gesichter, versichert der Sprecher, doch die Bleikugeln würden vom Boden abprallen und so eben Gesichter und Augen treffen.
70 Tote seit Juli
Manchmal trifft es auch Kinder und andere Unbeteiligte, die ins Kreuzfeuer geraten sind. So liegt jetzt ein sieben jähriger Junge auf der Krankenstation Nummer 8. «Wir waren auf dem Rückweg vom Freitagsgebet, da wurde mein Sohn ins linke Auge getroffen. Die Ärzte können nicht sagen ob er auf diesem Auge je wieder sehen wird», klagt sein Vater.
Die Blei-Pellet-Geschosse werden seit 2010 in Kaschmir verwendet, sie gelten als «nicht tödlich». Ein absurder Begriff, sagt Augenarzt Tariq Qureshi: «Das Gewebe in den Augen wird zerstört». Für seine Begriffe sind Pellet-Waffen selbstverständlich tödlich. Knapp 70 Personen starben im aktuellen Aufstand, etwa ein Dutzend durch die Pellet-Geschosse, da sie zu nah abgefeuert wurden und nicht in der Luft, sondern in den Körpern zerbarsten.
Verhärtete Fronten
Polizeisprecher Yadav gesteht ein, dass die Waffe nicht ideal ist. Doch im Moment gebe es keine Alternative. Nach einem Besuch des indischen Innenministers in Kaschmir hat die indische Zentralregierung diese Woche beschlossen, weiterhin nicht auf die Nutzung von Pellet-Waffen verzichten zu wollen.
Auch wenn die Geschosse kurzfristig Demonstrationen aufzulösen vermögen, den Konflikt lösen sie nicht. Im Gegenteil: Sie verhärten die Fronten. Die Meinung der mehrheitlich jungen Männern in der Krankenstation Nummer 8 ist jedenfalls gemacht. «Wir werden weiter für ein freies Kaschmir kämpfen, auch wenn wir beide Augen verlieren».