Das irakische Dorf Karakosch befindet sich etwa 32 Kilometer südöstlich von Mossul – in der Ninive-Ebene. Pater Roni ist eben von einer Reise in seine Heimat zurückgekehrt. Er erzählt vom Ausmass der Zerstörungen: «Eine Rakete hat ein grosses Loch in das Dach unseres Haus geschlagen.»
Gut möglich, dass diese Zerstörung in Karakosch von den irakischen Befreiern stammt – oder ihren amerikanischen Unterstützern aus der Luft. Denn die irakischen Panzer haben beim Einmarsch auch Fassadenteile im Dorf weggerissen.
Viel mehr zerstört in Karakosch haben aber die Dschihadisten des IS in den zwei Jahren zuvor: Die sunnitischen Fanatiker sprengten den halben Glockenturm der Marienkirche weg, missbrauchten Kirchen als Waffenschmieden, beschmierten Fassaden und plünderten im grossen Stil.
Das Ziel des IS: christliche Präsenz auslöschen
«Fast die Hälfte der Häuser sind derart beschädigt, sie können nicht mehr bewohnt werden», sagt der Pater. Auch sein Priesterseminar sei schwer getroffen. Der IS hat auch religiöse Schriften verbrannt. Sein Bestreben: annähernd zwei Jahrtausende alte christliche Präsenz auslöschen – hier im biblischen Ninive. Es gelang ihm nicht.
Der IS hat religiöse Schriften verbrannt.
Der syrisch-katholische Erzbischof von Mossul feierte in Karakosch gleich nach der Befreiung eine erste, symbolische Messe – in der leeren, russgeschwärzten Hauptkirche. Zweitausend Gläubigen böte sie Platz. Wann werden sie zurückkehren?
Der Hintergrund
- Vor zweieinhalb Jahren waren mit dem Sturm der Dschihadisten 50'000 Christen aus Karakosch ins Kurdengebiet geflohen. Ein Drittel davon zog weiter.
- Seit der US-Invasion 2003 sank der Anteil der Christen im Land von 8 auf unter 1 Prozent.
- Noch immer verlassen viele Christen den Irak in Richtung Libanon, Jordanien, Europa oder die USA.
- Die Gründe für die Flucht sind vor allem konfessionelle Spannungen und wirtschaftliche Perspektivlosigkeit.
In der Stadt Erbil, im Flüchtlingshaus Karama: Labib el Katib, der Verwalter des Hauses, freut sich über die Befreiung von Karakosch. Er erzählt, die Glocken hätten schon geläutet, als die irakische Armee den Ort noch gar nicht vollständig gesichert habe. Doch er sei vom Ausmass der Zerstörung auch ernüchtert. Es werde viel Zeit brauchen, um die Häuser in Karakosch wieder herzurichten, die Infrastruktur aufzubauen.
Strom, Wasser, Schulen, Spitäler. Woher das Geld nehmen? Viele Familien haben als Flüchtlinge ihre letzten Ressourcen aufgebraucht. Sie beginnen nun ein weiteres Mal von Null.
Tiefer Riss in der Nachbarschaft
Karakosch war ein vergleichsweise wohlhabendes Städtchen. Ein Zentrum – auch für die Leute aus den umliegenden sunnitischen Dörfern. Karakosch betrieb Spitäler, Schulen – auch für die Nachbarn. Doch manche der Nachbarn jubelten, als die sunnitischen Extremisten des IS die Christen in die Flucht schlugen – sie plünderten mit.
Sie wissen ja, was sie getan haben.
Ein Familienvater im Flüchtlingshaus in Erbil fragt: «Was haben wir unseren sunnitischen Nachbarn angetan? Ist es ihr Neid, ihre Eifersucht, weil es uns besser ging?» Die Terrormiliz ist verschwunden. Doch der Mann zögert, nach Karakosch zurückzugehen. Er habe Angst um seine Kinder, sagt er.
Labib al Katib, der Leiter des Hauses, fügt an: «Wir werden den Nachbarn nicht mehr in die Augen schauen können – und sie uns nicht.»
Auch Pater Roni erzählt vom Spalt der Gesellschaft: «Auf den sozialen Netzwerken brüsteten sich manche sogar noch damit, dass sie unsere Sachen stahlen.» Doch als Pater will Roni keinen Hass zulassen.
Gott ist der Richter, wir werden uns hier auf Erden um Versöhnung bemühen.
Gebietsansprüche auf allen Seiten
Aber auch um Garantien. Denn die Christen aus der Ebene von Mossul haben sich bewaffnet. Ihre Milizen sichern nun gemeinsam mit den irakischen Truppen die befreite, aber noch entvölkerte Stadt Karakosch. Und die Kirchenvorsteher diskutieren Modelle für die Zukunft. Wer hier künftig die Sicherheit übernimmt, das müsse gemeinsam entschieden werden, heisst es in ihren Mitteilungen diplomatisch.
Es gibt die konfessionellen Spannungen, es gibt aber auch territoriale Ansprüche in der Ebene von Ninive. In Karakosch steht die irakische Armee. Rings herum stehen die kurdischen Peschmerga. Der Zentralstaat und die Autonomiezone – beide Seiten erheben Ansprüche auf Gebiete.
Die Christen von Karakosch sind keine Kurden. Man kann heraushören, dass sie lieber unter irakischer Hoheit leben möchten. Aber in einem Irak für alle.
Labib el Katib setzt seine Hoffnung auf eine neue Provinz für die christlichen und jesidischen Dörfer und Städtchen in der Ebene von Mossul. Er ist nicht allein.
Diese Provinz für die religiösen Minderheiten würde von der sunnitisch geprägten Grossstadt Mossul losgekoppelt und wäre auch kein Teil der autonomen Kurdenregion. So die Vorstellung. Doch das wäre nur ein institutioneller Puffer.
Wir müssen lernen, uns wieder als Iraker zu verstehen. Nicht als Schiiten, Sunniten, Christen, Jesiden.
In den Köpfen der Menschen sei ein Wandel nötig, ist Labib el Katib überzeugt. Nur wenn dies gelinge, werde ein Zusammenleben in Irak wieder möglich sein. «So haben auch die Minderheiten hier eine Zukunft.»