Russland hat die Luftangriffe auf die syrische Stadt Aleppo wieder aufgenommen. Während das Regime von Präsident Baschar al-Assad den Westen der Stadt beherrscht, kontrollieren regimekritische Rebellen den belagerten Osten. Ihnen gelten die russischen Bomben.
Rund 225‘000 Menschen leben zurzeit im Osten der Stadt, unter ihnen viele Zivilpersonen, Familien und Kinder. Der Einsatz der modernen russischen Waffen mache ihnen enorm zu schaffen, sagt die freie Journalistin und Syrien-Kennerin Kristin Helberg.
SRF News: Wird jetzt die totale Zerstörung von Ost-Aleppo eingeleitet, vor der auch der UNO-Beauftragte Staffan de Mistura gewarnt hat?
Kristin Helberg: Die Regierung von Präsident Baschar al-Assad ist entschlossen, den Ostteil von Aleppo für sich zurückzuerobern. Wir sehen auch, dass Russland wohl bereit ist, ihm mit den massiven Luftangriffen dabei zu helfen. Damit wird eine Bodenoffensive vorbereitet, die zum Teil an einzelnen Orten in Ost-Aleppo schon probiert worden ist. Man muss verstehen, dass diese Bodenoffensive von Tausenden von schiitischen Milizionären angeführt würde – also von ausländischen Kämpfern, die aus Iran, Libanon, Afghanistan, Pakistan und dem Irak kommen und für Assad seinen Überlebenskampf führen würden. Sie warten im Umland von Aleppo darauf, in die Stadt hineinzugehen, um den Ostteil der Stadt im Häuserkampf für Assad zurückzuerobern.
Der Ostteil Aleppos ist bei bisherigen Luftangriffen bereits stark zerstört worden. Die Menschen leben dort unter elenden Bedingungen. Können sie weitere Angriffe noch ertragen?
Sie haben gar nicht die Wahl, ob sie das ertragen können, oder nicht. Sie sitzen fest und sind abgeriegelt. Wer noch dort wohnt, hat in den letzten Jahren nicht gehen wollen, hat sich dazu entschieden, in Aleppo zu bleiben, in der Heimat. Der Einsatz der modernen russischen Waffen macht den Leuten enorm zu schaffen – vor allem die bunkerbrechenden Waffen, die tiefe Krater in den Boden reissen. Ich habe neulich ein Video gesehen, in dem Kinder zu sehen waren, die am Tag nach einem solchen Angriff in dem Krater geschwommen sind, weil er mit Wasser aus einem nahen Brunnen vollgelaufen war. Die Kinder freuten sich, sprangen in den Bombenkrater und erzählten nebenbei von dem Wohnhaus nebenan, das komplett zerstört worden sei. Sie sagten, dort sei eine ganze Familie gestorben und es lägen übrigens immer noch Leichen unter dem Schutt. Danach sprangen die Kinder wieder ins Wasser. Dieses Nebeneinander Tod und Leben ist schwer zu ertragen, auch wenn man es sich nur von weitem anschaut.
Russland sagt, es bekämpfe mit seinen Angriffen auf Aleppo die Terroristen. Ist die Stadt wirklich ein Hort islamistischer Terrormilizen?
Das stimmt insofern, als dass die Rebellen in Ost-Aleppo inzwischen tatsächlich von der Fatah-al-Scham-Front, der ehemaligen al-Nusra-Front dominiert werden. Das sind aus unserer Sicht einfach Terroristen, aber die Grenzen sind in Syrien generell und insbesondere in Ost-Aleppo sehr fliessend. Eine Dauerbombardierung der Stadt führt nur dazu, dass die Rebellen weiter zusammenrücken. Die Welt hat den Kampf und den Widerstand gegen das Assad-Regime radikalen Kräften überlassen. Deswegen brauchen wir uns jetzt nicht zu wundern, wenn diese dort den Kampf dominieren. Aber deswegen mit international geächteten Waffen Wohngebiete zu bombardieren, in denen tatsächlich noch sehr viele Kinder leben, ist ein Kriegsverbrechen.
Die internationale Staatengemeinschaft will das Leiden in Aleppo beenden. Sie scheint aber machtlos. Liegen denn jetzt tatsächlich alle Trümpfe beim russischen Präsidenten Wladimir Putin?
Herr Putin hat es tatsächlich geschafft, in Syrien den Ton anzugeben. Ihm geht es dort eigentlich um drei Dinge: Er möchte als Weltmacht wahrgenommen werden. Das hat er erreicht. Er will in der Region den Ton angeben und in gewisser Weise auch die USA als Ordnungsmacht im Nahen Osten beerben. Auch das ist ihm zum Teil schon gelungen. Und Putin will seine eigenen Militärbasen in Syrien sichern. Auch da steht fest, dass Russland über diesen Krieg hinaus auf jeden Fall präsent sein wird. Auf der anderen Seite haben wir die USA, die von Anfang an klargemacht haben, dass sie sich – ausser gegen die IS-Terrormiliz – nicht militärisch engagieren wollen. Das ist die Stossrichtung, die Präsident Barack Obama vorgegeben hat. Das heisst, wir haben ein grosses Zögern, keinen Plan, keine Strategien. Rebellen wurden bewaffnet – mal diese, mal jene Gruppe, aber immer sehr unentschlossen. Wenn sich die beiden Aussenminister treffen, hat John Kerry einfach keinen Plan B, mit dem er Sergej Lawrow drohen könnte. Er kann immer nur mahnen, appellieren und hoffen.
Welche Lösung könnte es in Aleppo oder in ganz Syrien geben?
Das wichtigste wäre, dass Putin jetzt erkennt, dass ein geordneter Machtwechsel in Damaskus auch für ihn und die russischen Interessen die beste Lösung ist. Der Plan dafür liegt auf dem Tisch. Der Weltsicherheitsrat hat ihn im Dezember 2015 beschlossen und Putin ist der einzige, der Assad sagen könnte: «Bitte, mach den Weg frei für eine Verhandlungslösung. Wir suchen Vertreter des Regimes, die kein Blut an den Händen haben, Vertreter der Opposition und machen mit ihnen einen Übergang.» Assad davon zu überzeugen, wäre das wichtigste. Wahrscheinlich müssen wir auf eine neue Präsidentin oder einen neuen Präsidenten in Washington warten, bis wir wieder eine internationale Initiative auf diplomatischer Ebene sehen werden.
Das Gespräch führte Eliane Leiser.