Odessa gilt als multikulturelles Zentrum der Ukraine. Ukrainer, Russen, Rumänen, Weissrussen, Juden, Griechen und Albaner leben dort miteinander. Und ausgerechnet hier fand vor einer Woche die bislang blutigste und brutalste Auseinandersetzung im Ukraine-Konflikt statt. Das hat auch den deutschen Historiker und Odessa-Kenner Guido Hausmann überrascht, wie er gegenüber SRF sagt. Er räumt aber ein, dass es schon vorher Gerüchte gegeben habe, wonach Odessa für Aktivitäten der russischen Separatisten von Transnistrien oder aus Russland auserkoren worden war und sich in der Stadt daraufhin Gegenwehren bildeten.
Eine Stadt von besonderer Bedeutung
Warum wurde dafür gerade Odessa gewählt? Laut Hausmann hat die Stadt eine ganz andere symbolische und kulturelle Bedeutung als andere ukrainische Orte. Vor 1917 war Odessa Hauptstadt Neurusslands und Sitz des Gouverneurs. «Es ist daher ein Ort, der für die russische Kultur einen besonderen Namen hat.»
Odessa gelte heute als Stadt des leichten Lebens, des Urlaubs und des Südens. Zu diesem Image passt das, was vor einer Woche geschah, zwar nicht, aber Odessa hat auch ein anderes, weniger bekanntes Gesicht, wie Hausmann einräumt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sahen sich russische Nationalisten dort zunehmend in der Defensive: «Sie meinten, diese Stadt gegen die anderen verteidigen zu müssen – gegen die jüdische und ukrainische Bevölkerung und andere Minderheiten. Und das geschah auch gewaltsam.» In diesem Zusammenhang kam es auch zu jüdischen Pogromen – 1905 laut Hausmann eines der heftigsten mit mehreren hundert Opfern. Odessa ist also nicht nur eine Stadt des multikulturellen Miteinanders – es hat durchaus auch Zeiten des multikulturellen Gegeneinanders erlebt.
Aber auch mit der Multikulturalität ist es eigentlich vorbei. «Die Menschen in Odessa fühlen sich heute in ihrer Mehrheit der Ukraine zugehörig», stellt Hausmann fest. Insofern sei die Stadt provinzieller geworden. «Sie trägt zwar noch einen grossen Namen, hat aber nicht mehr diese Strahlkraft.»