SRF News: Der Ölpreis ist mit rund 32 US-Dollar pro Barrel so tief wie seit 2004 nicht mehr. Was bedeutet das für Venezuela, das rund 95 Prozent seiner Exportgewinne und die Hälfte seiner Staatseinnahmen aus dem Verkauf von Erdöl erzielt?
Ulrich Achermann: Wie wenig Venezuela mit seinem Öl jetzt noch verdient, zeigen zwei Zahlen: Im Januar 2015 nahm es mit seinen Exporten 857 Millionen Dollar ein; im Januar 2016 nur noch 77 Millionen. Der Sinkflug beim Ölpreis erklärt die Misere in Venezuela aber nur zu einem kleinen Teil. Korruption, Misswirtschaft und Populismus sind die tiefergehenden Gründe. Daran krankt Venezuela schon seit vielen Jahren.
Kann Präsident Nicolás Maduro die fehlenden Einnahmen mit der Erhöhung des inländischen Benzinpreises um das 60-Fache wettmachen?
Nein. Der Staat spart damit 800 Millionen Dollar jährlich. Das sind zwei Prozent des Bruttosozialproduktes. Allein das Haushaltsdefizit beläuft sich auf etwa 20 Prozent des BSP. Der Untergang des Maduro-Regimes könnte in die politische Gewalttätigkeit führen oder zu einen Militärputsch. Auch eine Staatspleite droht und Hyperinflation sowieso. Dazu breitet sich eine Denguefieber-und Zika-Epidemie aus, denen die Menschen mangels verfügbarer Medikamente schutzlos ausgeliefert sind.
Droht nun ein Aufstand – zumal die Bevölkerung eigentlich die Chavisten im vergangenen Dezember abgewählt hat?
Historisch betrachtet hat teureres Benzin fast immer zu grosser Unzufriedenheit geführt; 1989 sogar zu gewalttätigen Protesten und brutaler Unterdrückung. Die Gefahr, dass sich solche Unruhen wiederholen können, ist real. Aber heute geht es um viel mehr. Die International Crisis Group etwa warnt vor Zusammenstössen zwischen Chavisten und Antichavisten; vor einem Blutvergiessen und einer humanitären Krise. Die regierenden Linkspopulisten schlagen die vernichtende Wahlniederlage vom letzten Dezember einfach in den Wind. Statt Kompromisse und gemeinsame Lösungen mit der bürgerlichen Opposition zu suchen, tricksen sie diese mit fragwürdigsten Methoden aus. Der Niedergang des Landes und das Risiko von gewaltsamen Lösungen vertiefen sich derweil.
In Venezuela fehlt es an Nahrungsmitteln und Medikamenten. Wie prekär ist die Lage für die Bevölkerung?
Sie ist sehr prekär. Krebspatienten können nicht mehr behandelt werden, chronisch Kranke finden ihre Medikamente nicht mehr. Acht von zehn preisregulierten Grundnahrungsmitteln sind nicht verfügbar – es sei denn auf dem Schwarzmarkt, also viel teurer.
Der Staat übt grossen Einfluss auf die Produktion und Verteilung von Gütern aus. Vieles landet auf Schwarzmarkt; staatliche Funktionäre bereichern sich damit. Jetzt hat Präsident Maduro den staatlichen Einfluss noch ausgedehnt. Das teurere Benzin wird die Inflation wohl auf weit über 1000 Prozent im Jahr beschleunigen und die Leute auszehren: Der gesetzliche Mindestlohn beträgt neu 11‘000 Bolivar. Zum Schwarzkurs umgerechnet sind das jetzt schon nur noch zehn Dollar pro Monat.
Welche anderen Wirtschaftsreformen plant Maduro, um dem Notstand zu begegnen?
Ohne den staatlichen Einfluss zurückzufahren und der Privatinitiative mehr Bewegungsfreiheit zu lassen, ist das Steuer nicht herumzureissen. Maduro hat jetzt ein Ministerium für urbane Landwirtschaft geschaffen. Die Stadtmenschen sollen auf ihren Balkonen Hühner züchten und Gemüse ziehen. Der Präsident rühmt sich, er selber halte 50 Hühner.
Können die Massnahmen etwas bewirken oder wird er längerfristig gezwungen sein, vom Sozialismus abzurücken?
Die Maduro-Regierung dürfte in den letzten Zügen liegen. Was nicht zwangsläufig heisst, dass gleichzeitig auch der Chavismus selbst als Akteur von der politischen Bildfläche verschwindet. Den Sozialismus und Populismus zu überwinden, setzt einen Regierungswechsel voraus.
Maduro darf laut Verfassung bis 2019 im Amt bleiben und dies obschon die Opposition das Parlament seit vergangenem Dezember dominiert. Der Oberste Gerichtshof hat sich auf die Seite des Staatschefs gestellt und «alle Handlungen» der Nationalversammlung für nichtig erklärt. Wie lange kann dieses politische Armdrücken noch gut gehen?
Angesichts der Dramatik, mit der sich die Krise verschärft, wohl nicht mehr allzu lange. Aber bis es zu einem Wandel kommt, werden Konflikte zwischen den Staatsgewalten das Bild prägen. Und sie tendieren dazu, sich zu verschärfen. Es war noch Hugo Chavez, der seine fanatischsten Anhänger bewaffnete. Die sogenannten «colectivos» (gewaltbereite Banden) sind sehr gefährlich, weil offenbar niemand mehr eine Befehlsgewalt über sie hat. Gezeigt hat sich das 2014, während den heftigen regierungsfeindlichen Protesten. Damals gab es 43 Tote, viele gingen auf das Konto dieser Banden.
Wie wahrscheinlich ist eine Konterrevolution durch die Opposition?
Es gibt verfassungskonforme Wege, Präsident Maduro vorzeitig loszuwerden. Ein Absetzungsreferendum ist eine Möglichkeit. Die Amtszeit Maduros zu beschränken, eine zweite. Zum Kollaps dürfte es aber vor 2017 kommen: Nämlich zum Totalzusammenbruch der Versorgung und/oder zu aufflammender politischer Gewalttätigkeit mit Blutvergiessen und Toten. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder servieren die Chavisten selber Nicolas Maduro ab. Oder das Militär putscht und reisst die Macht an sich. Beides dürfte nicht friedlich verlaufen.
Das Gespräch führte Marion Ronca.