Bei einer Vertrauensabstimmung in der Parlamentsfraktion Ende Juni haben mehr als 80 Prozent der Labour-Abgeordneten gegen Parteichef Jeremy Corbyn gestimmt. Sie warfen ihm vor, sich vor dem EU-Referendum vom 23. Juni nicht entschieden genug für einen Verbleib Grossbritanniens in der EU eingesetzt zu haben. An der Parteibasis und bei den meisten Gewerkschaften geniesst der Politiker dagegen grosse Zustimmung. Corbyn war im September 2015 bei einer Urwahl mit grosser Mehrheit zum Vorsitzenden gewählt worden.
SRF News: Wie hat es Labour-Parteichef Jeremy Corbyn geschafft, seine Partei so zu spalten?
Martin Alioth: Der eine Grund ist seine Person selber, der andere sind seine Steckenpferde. Corbyn ist ein Nostalgiker der 1960er und 1970er Jahre. Im Auftreten der Labour-Partei hat er nicht überzeugt. Wir stehen vor einem Dilemma: Die Parteibasis – rund 700‘000 Parteimitglieder und Gewerkschafter –, die nun wählen darf, steht klar hinter Corbyn. Drei Viertel der Parteifraktion im Unterhaus hingegen haben dem Parteichef ihr Misstrauen ausgesprochen.
Weshalb ist nirgends ein prominenter Gegenkandidat in Sicht, der Corbyn gefährlich werden könnte?
Es mangelt der Labour-Partei im Moment an talentierten Schwergewichten. Das zeigte sich bereits im vergangenen Sommer, als drei Mitte-Kandidaten gegen Corbyn antraten. Sie konnten nicht überzeugen. Andere wiederum halten sich bedeckt. Das entspricht wohl der Einsicht, dass die Basis, die im Moment das Wahlrecht für den Parteichef hat, so klar für Corbyn einsteht, dass niemand sonst eine Chance hätte.
Es ist also davon auszugehen, dass Corbyn Labour-Parteichef bleibt?
Ich denke ja. Danach wird sich die Frage stellen: ‹Wie weiter?› Denn die Partei ist im Parlament unglaubwürdig und im Lande nicht wählbar. Eigentlich ist das einfach ein innenpolitisches Parteiproblem. Doch geht es im Moment darum, den EU-Austritt Grossbritanniens zu gestalten. Hierfür braucht das Land eine handlungsfähige Opposition – als Gegenentwurf für die konservative Regierung. Fehlt diese Opposition, ist das nicht gut für die Demokratie.
Das Gespräch führte Daniel Eisner.