Richard von Weizsäcker verkörperte als Bundespräsident nach dem Zweiten Weltkrieg wie kaum ein anderer das geläuterte, weltoffene Deutschland. Am 8. Mai jährt sich zum 30. Mal seine wohl berühmteste Rede zum Kriegsende 1945. In der Bevölkerung galt er als Idealtypus eines deutschen Staatsoberhaupts. Alle Nachfolger mussten sich an ihm messen lassen.
Auch nach dem Ausscheiden aus dem Amt blieb Weizsäcker weltweit ein gefragter Mann, sei es in der Kommission zur Reform der UNO, sei es als Mahner für eine Welt ohne Atomwaffen. Unzählige Auszeichnungen unterstreichen seine hohe internationale Reputation. Zu seinem 90. Geburtstag schrieb Bundeskanzlerin Angela Merkel: «Mit Würde, Augenmass und Umsicht haben Sie schon jetzt einen bedeutenden Platz in der politischen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gefunden.»
Entgegen der Familientradition
Zuletzt war es allerdings still um ihn geworden. 2014 meldete er sich noch einmal in der «Bild»-Zeitung zu Wort und würdigte Claus Schenk Graf von Stauffenberg zum Jahrestag des Attentats auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944: «Ich war Stauffenberg schon 1942 begegnet. Eine eindrucksvolle Erscheinung mit leuchtenden Augen, charakterstark, mitreissend. Für mich, den jungen Soldaten Anfang 20, war es imponierend, ihn zu erleben.»
Richard von Weizsäcker diente als Offizier im Zweiten Weltkrieg. Der Freiherr, am 15. April 1920 in Stuttgart geboren, wuchs im «preussischen» Berlin heran. Er stammt aus dem schwäbischen Bildungsbürgertum – der Urgrossvater ist Theologe, der Grossvater württembergischer Ministerpräsident, der Vater seit 1938 Staatssekretär im Auswärtigen Amt in Berlin. Grossonkel, Onkel und Bruder Carl Friedrich sind renommierte Wissenschaftler.
Anders als es die Familientradition vorgab, ging er in der jungen Bundesrepublik zunächst in die Wirtschaft. 1953 zuerst zu Mannesmann und später zu C.H. Boehringer in Ingelheim.
Politiker werden immer mehr von Jugend an zu parteiabhängigen Berufspolitikern. Selbstständigkeit und Qualität nehmen ab.
Doch Anfang 1965 will der erst 35-jährige Helmut Kohl den zehn Jahre Älteren in die Politik «holen». Weizsäcker, seit 1954 CDU-Mitglied, sagt vorerst ab. 1969 kann er dann aber nicht mehr widerstehen. Kohl versuchte damals, die katholisch und kleinbürgerlich geprägte CDU zu einer modernen Volkspartei zu machen.
Zerwürfnis mit Kohl
Der promovierte Jurist Weizsäcker passt dafür bestens ins Bild. Er gilt als liberal-konservativ und pflegt als Diplomaten-Sohn eine gewisse Weltoffenheit. Er ist ein Mann aus der Wirtschaft, Protestant und Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages – und er ist ein brillanter Redner.
Die Vorteile, die Kohl damals für seine CDU in der Person Weizsäcker sah, führten am Ende zum Zerwürfnis zwischen dem Parteipatriarchen und dem «eigensinnigen» Intellektuellen. Kohl wirft Weizsäcker mit den Jahren immer lauter vor, er habe vergessen, dass er mit der CDU Karriere gemacht habe. Weizsäcker lässt im Gegenzug nicht ganz uneitel durchblicken, die CDU schmücke sich gerne mit ihm. Anfang der 1990er Jahre hält er den Parteien vor, sie seien «machtversessen und machtvergessen».
Die ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger bei uns müssen die Zuversicht bekommen, dass sie bei uns mit derselben Achtung ihre Menschenwürde leben können, wie die Deutschen auch.
Kohl sorgte zunächst dafür, dass Weizsäcker schnell Karriere machte. 1979 wird er Vizepräsident des Bundestags und wird 1981 Regierender Bürgermeister in der «Frontstadt» Berlin.
Harte politische Arbeit in Berlin
In Berlin beweist Weizsäcker, dass er nicht nur der Mann für das Feinsinnige, sondern auch für das politisch Grobe sein kann. Ihm gelingt, was der SPD weder in Berlin noch in Hamburg gelang: eine Beruhigung der militanten Hausbesetzer-Szene.
Die Angleichung der Lebensverhältnisse des Ostens an den Westen ist ein grosses Ziel, zu gross, als dass glaubwürdig versprochen werden dürfte, es liesse sich schon während der nächsten fünf Jahre wirklich erreichen.
1984 drängt er – gegen den entschiedenen Widerstand Kohls – ins Amt des Bundespräsidenten. Kaum ein Jahr im Amt bietet er mit seiner historischen Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985 eine Demonstration seiner politischen Eigenständigkeit. Der 8. Mai sei ein Tag der Befreiung – das Kriegsende sei nicht mehr nur als Niederlage zu verstehen, sondern als Befreiung «von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft». Flucht und Vertreibung dürften nicht losgelöst gesehen werden von der «Gewaltherrschaft, die zum Kriege führte».
Die Mauer in Berlin ist eine Realität; aber realistisch ist sie nicht, denn sie ist nicht vernünftig, nicht human. Deshalb wird sie in der geschichtlichen Perspektive keinen Bestand haben.
Dass diese Gedanken von einem Bundespräsidenten zu einer Zeit vorgetragen wurden, als das konservative Lager zum Teil noch weit von derlei Erkenntnis entfernt schien, gab der Rede eine andere Dimension. An manchen Stellen dieser Rede erhielt Weizsäcker von der Opposition mehr Beifall als von der CDU.
Die Rede des damals 65-jährigen Weizsäckers war auch dessen persönliche Auseinandersetzung mit den eigenen Kriegserlebnissen. Dabei war ihm selbst wenig vorzuwerfen. Er stand dem Widerstand nahe, anders als sein Vater Ernst. Die Amerikaner sahen im Aussen-Staatssekretär unter den Nazis einen der vielen Schreibtischtäter. In den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen 1948/49 unterstützt Richard als Jurastudent die Verteidiger des Vaters. Der Familie Weizsäcker ging es vor allem darum, die Deutungshoheit über das Wirken des Vaters zu behalten.
Erster Bundespräsident mit Sitz in Berlin
In dieser Auseinandersetzung zeigte Richard von Weizsäcker – anders als der überwiegende Teil der Deutschen – schon wenige Jahre nach dem Krieg ein hohes Mass an Selbstkritik. Er war beim Einmarsch der Wehrmacht in Polen dabei, gleich am zweiten Kriegstag fiel sein Bruder Heinrich. Die Aussöhnung mit Polen machte er nach dem Krieg auch deshalb zu seinem Anliegen. Konsequenterweise hegte er Sympathien für die Ost-Politik Willy Brandts.
Dankbar zeigte sich Weizsäcker, dass die deutsche Wiedervereinigung in seine Amtszeit als Bundespräsident fiel. Bald nach der Wende verlegt er den ersten Amtssitz des Präsidenten von Bonn nach Berlin. Er würdigte grundsätzlich die Entscheidungen Kohls, die der Einheit vorausgingen, kritisierte aber, dass die Politik den Wählern im Westen vorgemacht habe, «die Vereinigung kostet euch nichts». Nur konsequent, dass Kohl Weizsäcker vorwarf, er habe sich immer für den Klügsten und Besten gehalten.