SRF News: In den sozialen Medien kursieren die wildesten Thesen und Vermutungen. Welche Quellen haben Sie, die einen russischen Militäreinsatz in Syrien belegen?
Daniel Gerlach: Es ist nicht wahnsinnig neu, dass die Russen in Syrien aktiv sind, sie haben das auch nie wirklich bestritten. In den vom Assad-Regime kontrollierten Gebieten begegnen Menschen tagtäglich Russen. In Küsten-Städten wie Tartus oder Latakia ist Russland traditionell präsent. Die Qualität ist möglicherweise neu – der Ausbau eines Flugplatzes, die Präsenz von schwerem Kriegsgerät. Die Präsenz von Truppen mit einem militärischen Feldzug gleichzusetzen, halte ich aber für übertrieben und wenig hilfreich.
Welche Strategie verfolgt Russland mit seinem militärischen Engagement in Syrien?
Man wirft den Russen vor, die allgemeine Panik vor dem «Islamischen Staat» ausnutzen zu wollen; sich also an die Spitze einer Anti-Terror-Allianz zu stellen, um in Syrien Fakten zu schaffen. Die Geschichte hat aber einen Haken. Der Denkfehler ist: Wenn die Russen tatsächlich das Assad-Regime stützen wollten, müssten sie sich voll auf den Schutz der Hauptstadt Damaskus konzentrieren. Denn nur, wenn Assad Zugriff auf die Hauptstadt hat, kann das Regime weiter existieren.
Die Russen sind nach meiner Einschätzung nicht mal dabei, an der Küste ein Protektorat zu errichten. Denn dort hat das Assad-Regime – trotz gegenteiliger Medienberichte – keinen Rückhalt mehr. Es hat die dortige Bevölkerung, unter der viele Minderheiten leben, verheizt, geopfert und notorisch unterbewaffnet. In vielen Dörfern gibt es keine jungen Männer mehr. All das ging nicht spurlos vorüber. Wenn die Russen tatsächlich die Küste verteidigen wollten, würden sie damit nicht unbedingt dem Assad-Regime in die Hände spielen. Deswegen übt der Westen, gerade auch die USA, recht kleinlaut Kritik und scheint das alles gar nicht so schlecht zu finden.
Wenn der Westen nicht in der Lage ist, stabilisierend zu wirken, macht sich Russland das zunutze.
Sie haben geschrieben, ein Engagement in Syrien wäre eine Entlastung für den Westen. Erklären Sie das.
Das mag widersprüchlich klingen. Russland hat durch seine Unterstützung des Regimes und seine mangelnde Bereitschaft, an internationalen Lösungen mitzuwirken, eigentlich am Zerfall Syriens mitgearbeitet. Man darf aber nicht vergessen: Die Minderheiten an der Küste, insbesondere die Alawiten, haben berechtigterweise Angst vor dem Eindringen dschihadistischer Kräfte – nicht etwa vor dem IS, sondern andere Gruppen, die von Saudi-Arabien und der Türkei massiv unterstützt werden. Wenn das eine Panik ausbrechen lässt, haben wir direkt an der Mittelmeerküste über eine Million Menschen, die in dem ganzen «Flüchtlingskalkül» überhaupt niemand auf dem Schirm hat. Wenn sich die Russen hier engagieren, haben sie den Finger am Schmerztropf Europas.
Es gibt Vermutungen, dass sich Putin an der 70. Uno-Vollversammlung für einen vereinten Kampf gegen den IS einsetzen will. Ist das plausibel?
Warum nicht. Es ist wieder einmal die gleiche Situation: Putin profitiert davon, wenn sich der Westen in Widersprüche verwickelt oder versagt hat. Seit über einem Jahr gibt es mittlerweile eine militärische Koalition gegen den IS. Was wurde bislang tatsächlich unternommen? Insbesondere von den Staaten in der Region, die sich so medienträchtig auf die Seite der USA gestellt haben; Saudi-Arabien, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate usw. Wenn der Westen nicht in der Lage ist, mit seinen angeblichen Verbündeten stabilisierend zu wirken, macht sich Russland das zunutze. Gerade nach dem Chaos mit der Krim und der Ukraine. Sie versuchen, aus der internationalen Isolation herauszukommen – und sich mit Themen zu profilieren, mit denen sich vor allem die öffentliche Meinung im Westen auf ihre Seite ziehen wollen.
Das Gespräch führte Samuel Wyss.