Felder mit grünen Weizensprossen zieren die Landschaft im Norden Indiens. Zwischen den Feldern: Wasserkanäle. Sie stehen für die Fruchtbarkeit des Punjab, der Kornkammer Indiens. Aber sie bedeuten auch ein dunkles Kapitel der jüngeren Geschichte.
Ungefähr 250‘000 Bauern haben sich in den vergangen 15 Jahren in Indien umgebracht. Während die Städte boomen, können viele Bauern ihre Familien nicht mehr von der Landwirtschaft ernähren. Ihre Parzellen sind zu klein, ihre Schulden zu gross. Viele wählen den Selbstmord.
Warten auf den Bruder
An einer Schleuse des Punjab sitzen einige Männer. Sie warten hier seit neun Tagen auf ihren Bruder, einen Bauern. Der Bruder sei in den Kanal gesprungen und wohl ertrunken. Verzweifelt sei er gewesen, sagt einer der Männer.
Der Kanal als letzter Ausweg: Schleusenwärter Sonu musste im letzten Monat jeden Tag einen Toten aus dem Wasser fischen. Das sei mittlerweile seine Hauptaufgabe hier, sagt er: «Ich springe ins Wasser, packe den Toten an den Beinen, ziehe ihn raus. Danach hoffe ich, dass die Leiche von Angehörigen abgeholt wird.»
Auch heute hat der Kanal wieder einen leblosen Körper angeschwemmt. Die Leiche liegt am Ufer, festgezurrt an einem Seil. Niemand hat sie bisher abgeholt. Auch die Polizei interessiert sich nicht für sie. Dabei liegt der Polizeiposten gleich neben dem Kanal.
Welche Selbstmorde?
Die Polizisten geben sich unwissend: Bauern-Selbstmorde? Das gebe es hier nicht. Nur eine einzige Wasserleiche sei im Monat Juli angeschwemmt worden. Sonst sei ihnen im ganzen Jahr nichts aufgefallen.
Im Dorf Chhotia, 4000 Einwohner, wenige Kilometer vom Kanal entfernt: Hier haben sich in den letzten zwanzig Jahren 65 Bauern umgebracht. Sie haben Pestizid getrunken. Sie haben sich angezündet oder erhängt. So wie Darshan Grumel vor drei Jahren.
Er hat eine Frau, drei Töchter und einen Sohn zurück gelassen. Auch zwei Büffel und vier Hektaren Land. Doch das gibt zu wenig her, um eine Familie zu ernähren.
Keinen Ausweg gesehen
Die 28jährige Tochter Benta Gaur melkt gerade die Büffel. Sie ist überzeugt: Ihr Vater hat sich erhängt, weil er keinen anderen Ausweg mehr sah. «Er hatte einen Kredit beim Geldverleiher aufgenommen, um das Brautgeld für meine zwei älteren Schwestern zu bezahlen. Aber dann konnten wir das Geld nicht zurückzahlen», sagt sie.
Nun ist der Vater tot. Geblieben sind die Schulden und die Sorgen. Geblieben ist auch die jüngste Tochter. Mit 28 Jahren sollte sie schon längst verheiratet sein. Ihre Mutter, die Witwe Gaur, ist verzweifelt: «Wir haben eine gute Partie gesucht, aber keine gefunden. Wie soll ich das Brautgeld bezahlen?» Wahrscheinlich werde sie das Land verkaufen müssen, sagt sie.
Angst vor der Polizei
Eigentlich erhalten die Hinterbliebenen eine Kompensation von der Regierung. Dafür müssen sie aber den Selbstmord melden. Doch im Dorf Chhotia wagt keine Frau, deswegen zur Polizei zu gehen. Auch die Witwe Gaur nicht. Sie liess den Leichnam ihres Mannes einfach verbrennen.
Warum? Gaur sagt: «Die Polizei hätte wahrscheinlich gesagt, wir hätten ihn umgebracht, und dann hätte sie uns verhaftet und anschliessend Schmiergeld verlangt.»
Versagen der Regierung
In Punjab haben sich in den vergangenen zehn Jahren 5000 Bauern umgebracht. Das geht aus einer Studie verschiedener Universitäten in Punjab hervor. Die offiziellen Zahlen der Regierung liegen weit darunter. Doch vermutlich haben sich noch weit mehr als 5000 Bauern umgebracht. Das Hauptmotiv für die Selbstmorde: Verschuldung.
Die Bauern setzten ihrem Leben ein Ende, weil der Boden nicht genug zum Leben hergibt, sagt Menschenrechtsaktivist Inderjeet Singh Jaijee. Der 83jährige entstammt einer alten Feudalfamilie und setzt sich seit zwanzig Jahren für die Rechte der Bauern ein.
Die Bauern verdienen nicht mehr genug mit der Landwirtschaft. Andere Verdienstmöglichkeiten gibt es aber kaum. Die Regierung hat es versäumt, Industrie oder Gewerbe anzusiedeln. Zudem haben die Bauern keinen Zugang zu günstigen Krediten. Diese bekommen sie nur bei Geldverleihern, die dafür Wucherzinsen bis zu 50 Prozent verlangen.
Die neuen Feudalherren
Beim lokalen Markt, dort wo die Tagelöhner Weizen dreschen, sitzen die Geldverleiher in ihren Büros. Sie vergeben nicht nur Kredite, sondern kaufen als Mittelsmänner den Bauern auch die Ernte ab.
Der Geldverleiher Jeevan Kumar ist beleibt, Goldringe zieren seine wurstigen Finger. Er weiss ganz genau, wie abhängig die Bauern von ihm sind: «Wir sind als Banker der Bauern Tag und Nacht für sie da. Alle Bauern holen sich bei uns Kredite. Wenn sie sie nicht zurückzahlen können, dann nehme ich einfach ihre Ernte.»
Die Geldverleiher sind heute die neuen Feudalherren. Die Kleinbauern sind ihnen ausgeliefert. Sie haben kaum eine Chance, der Schuldenspirale zu entkommen.
Aber auch kulturelle Gründe sind schuld am Elend der Bauern im Punjab. Eine Hochzeit muss stets prunkvoll sein – auch wenn das Geld kaum zum Leben reicht. Die hohen Brautgelder für die Mädchen treiben viele Familien an den Rand des Ruins.
Lieber sterben
Ihr Stolz verbietet es den Pujabis zudem, sich als Tagelöhner in den Städten oder gar in anderen Gliedstaaten zu verdingen. Das sagt der emeritierte Soziologieprofessor Gopal Iyer: «Die Menschen in den armen Gliedstaaten haben während Generationen gelernt, der Not durch Migration zu entfliehen. Ganz anders die Punjabis. Sie sehen sich noch immer als heldenhafte Krieger, die das nördliche Tor zu Indien verteidigen. Und ein Krieger arbeitet eben nicht als Tagelöhner. Lieber stirbt er.»
Auch die Regional-Regierung Punjabs steckt lieber den Kopf in den Sand. Das Problem der Bauern-Selbstmorde werde ganz bewusst ignoriert, sagt Menschenrechtsaktivist Inderjeet Singh: «Punjab ist das landwirtschaftliche Vorbild in Indien.» Was würde passieren, wenn die Inder also erfahren würden, dass auch in dieser fruchtbaren Gegend Bauern nicht mehr überleben können? Das wäre ein fatales Zeichen und könnte zu grossen sozialen Unruhen führen, sagt Singh. Deshalb schweigt die Regierung lieber.