SRF News: Michael Räber, Sie sind als freiwilliger Helfer in Lesbos vor Ort. Was machen Sie dort genau?
Michael Räber: Wir sind am Strand im Einsatz – genauer gesagt an jenem Küstenstreifen, an dem die Flüchtlingsboote ankommen. Dort sind wir mit Flutlichtern und Heizungen unterwegs. Damit beleuchten wir die Landeplätze für die Boote, die nachts ankommen. Dank der Heizungen können sich die Leute aufwärmen und danach trockene Kleider anziehen. Im Moment versuchen wir, auch andere Helfer und Organisationen davon zu überzeugen, Heizungen anzuschaffen. Zudem haben wir eine Gruppe spanischer Rettungsschwimmer mit Akku-Leuchten ausgerüstet, damit sie auch in der Nacht arbeiten können.
Wie funktioniert die Zusammenarbeit?
Die Zusammenarbeit mit anderen privaten Helfern funktioniert gut, wir arbeiten Hand in Hand. Neben den spanischen Rettungsschwimmern sind beispielsweise Gruppen von Helfern aus Norwegen und Holland da. Letztere unterstützen die Flüchtlinge mit Wasser und Essen.
Auch die Einwohner von Lesbos sind unglaublich solidarisch und helfen mit, Leute aus dem Wasser zu ziehen oder wiederzubeleben. Diesen Einsatz rechne ich ihnen hoch an, da die vielen Flüchtlinge für sie zur Folge haben, dass der Tourismus wegbricht.
Sie sprechen von privaten Helfern und von den Einwohnern. Wo ist denn die Regierung, wo sind die grossen Hilfswerke wie das Rote Kreuz oder das Uno-Flüchtlingswerk UNHCR?
Die sind nirgends. Von den offiziellen Stellen ist niemand präsent. Zwar gibt es eine kleine Anzahl von Polizisten, die Patrouillen machen und die auch helfen, wenn es einen Notfall gibt. Doch es sind schlicht zu wenige. Diese zehn Kilometer Strand, an denen die Flüchtlinge ankommen, werden ausschliesslich von privaten Bürgern betreut. Die Ausnahme ist eine Gruppe von Helfern des hellenischen Roten Kreuzes, die vor Ort ist und viel leistet. Doch sie werden ebenso alleine gelassen wie wir alle.
Wissen Sie, warum weder Hilfswerke noch die Regierung vor Ort sind?
Nein. Es ist mir nicht zuletzt darum unerklärlich, weil sowohl das UNHCR als auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz Regierungsgelder erhalten. Das UNHCR hatte uns vor drei Wochen versprochen, dass sie am Strand alle Kilometer ein Zelt für die Flüchtlinge aufstellen – passiert ist nichts. Das einzige, was das UNHCR macht, ist, die Flüchtlinge mit Bussen über die Insel zu transportieren. Und als wir ihnen Plachen angeboten haben für die Flüchtlinge, haben sie uns weggeschickt – und uns gesagt, dass wir Helfer mehr schadeten als nützten. Für mich ist das unbegreiflich.
Was Griechenland betrifft, so glaube ich, dass die Regierung einfach total überfordert ist. Nicht zuletzt, weil sie von den europäischen Partnern total im Stich gelassen wird.
Sind Sie alleine vor Ort?
Im Moment ist ein Freund da, der mithilft. Davor waren meine Frau, meine Schwester und meine Tante hier. Und im Dezember kommt noch mein Bruder, um zu helfen.
Wird es Ihnen manchmal nicht zu viel – gerade nach dem Bootsunglück vor zwei Tagen, als viele Menschen nur noch tot geborgen werden konnten?
Doch, immer wieder. An einem Tag bin ich deshalb auf die andere Seite der Insel gefahren und habe mich einen Tag lang entspannt. Es ist ein Kreis von Traurigkeit, Wut und Motivation. Doch am Ende siegt die Motivation. Jeden Tag gibt es wieder Momente, in denen ich mir sage, das hat sich gelohnt. Wenn ich auch nur schon ein Leben gerettet habe, hat es sich gelohnt. Mein Plan ist, als nächstes ein Schiff zu chartern und den Menschen im Wasser direkt zu helfen.
Ich glaube deshalb nicht, dass der Zustrom abnehmen wird, wenn das Wetter schlechter wird.
Der Sommer ist vorbei, doch noch immer kommen viele Flüchtlinge an. Wie geht ihnen?
Schlecht. Das Problem ist nicht nur die Kälte, sondern vor allem der Wind. Die Menschen sind stundenlang auf dem Meer und völlig durchnässt und ausgekühlt. – Für mich sind das wahnsinnige Zustände; wir sind doch in Europa, wo die Ressourcen vorhanden sein müssten, um das zu verhindern!
Es kommen also nicht weniger Flüchtlinge an als im Sommer?
Nein, eher noch mehr. An gewissen Tagen sind es 7000 bis 8000 Flüchtlinge. Weil die Nachfrage steigt, verlangen die Schlepper auch mehr Geld: Statt 1100 Euro kostet die Überfahrt jetzt 1500 Euro. Ich glaube deshalb nicht, dass der Zustrom abnehmen wird, wenn das Wetter schlechter wird. So haben mir ein paar Afghanen erzählt, dass sie 100 Euro Rabatt gekriegt hätten, weil sie im Gewittersturm losgefahren sind.