So etwas hat es in der langen Geschichte der Olympischen Spiele noch nie gegeben: alle Leichtathleten eines Landes sollen mit einem Startverbot belegt werden – weil in ihrer Heimat kräftig gedopt wird. Der Weltleichtathletikverband (IAAF) will heute entscheiden, ob er seine bereits bestehende Sperre für russische Sportler verlängert. Sagt er Ja, müssen Russlands Läufer, Hochspringer und Speerwerfer ihre Olympia-Hoffnungen begraben.
Vorwurf: Staatlich organisiertes Doping-Programm
Es wäre ein beispielloser Vorgang. Doch auch die Vorwürfe gegen Russland sind beispiellos. Seit Monaten werden immer neue Doping-Skandale bekannt. Russische Leichtathleten sollen systematisch gedopt haben; auch russische Fussballer, Wintersportler oder Gewichtheber nehmen offenbar verbotene Substanzen.
Nun wird auch in vielen anderen Ländern gedopt. Aber Russland scheint nach allem was man weiss ein besonders schwerer Fall zu sein: Mehrere Quellen berichten von einem staatlich organisierten Doping-Programm. Wie aus einem Spionage-Krimi etwa tönt, was Grigori Rodschenkow erzählt hat, der ehemalige Chef des russischen Anti-Doping-Labors.
Bei den Olympischen Spielen in Sotschi, so Rodschenkow, seien systematisch Urin-Proben von russischen Sportlern ausgetauscht worden. Ziel: Doping-Fälle vertuschen. Beteiligt an der Spezialoperation waren laut Rodschenkow sogar der russische Geheimdienst FSB sowie das Sportministerium.
Vernichtendes Zeugnis der WADA
Der Weltleichtathletikverband hat im vergangenen November sämtliche russischen Leichtathleten gesperrt. Rund ein halbes Jahr hat Russland nun Zeit gehabt, um Ordnung in sein Anti-Dopingsystem zu bringen. Ob das gelungen ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Ein neuer Bericht der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) stellt Russland ein vernichtendes Zeugnis aus. Ausländische Anti-Doping-Funktionäre seien in den vergangenen Monaten in Russland massiv behindert worden.
Sportler verstecken sich in Militärstädten
Über 700 Mal haben sich russische Sportler einem Doping-Test entzogen – unter anderem, in dem sie sich in geschlossenen Militärstädten aufhielten, zu denen Ausländer keinen Zutritt haben. Zudem seien Doping-Kontrolleure von bewaffneten Sicherheitskräften bedroht worden.
Einen Schatten auf den russischen Sport wirft auch ein neuer Dokumentarfilm der ARD. In «Geheimsache Doping: Russlands Täuschungsmanöver» präsentieren die Autoren Indizien, dass selbst der russische Sportminister Witali Mutko ins Doping-System eingebunden ist: der Mann, der eigentlich für einen sauberen Sport sorgen sollte.
In Russland werden die wiederholten Vorwürfe zurückgewiesen – oder als Angriff von feindlichen Mächten diskreditiert. Zum ARD-Film sagte Natalja Schelanowa, eine enge Mitarbeiterin von Sportminister Mutko: «Unser System wird nicht von heute auf morgen ideal. Die Veränderungen passieren langsam.» Aber Russland führe derzeit Reformen durch. «Ich glaube an den Kampf gegen Doping.»
Auch mehrere russische Sportler haben sich zu Wort gemeldet. In einem offenen Brief bitten sie das Internationale Olympische Komitee (IOC), jenen russischen Sportlern die Teilnahme in Rio zu ermöglichen, die noch nie des Dopings überführt wurden. «Wir haben hart trainiert und uns angestrengt. Wieso müssen wir nun für die Fehler anderer bezahlen?»
Undschuldige bestrafen oder Dopingsünder belohnen?
In der Tat steht der Weltleichtathletikverband vor einer schwierigen Frage: alle Russen zu sperren, weil systematisch gedopt wird, wäre eine Art Sippenhaft, auch Unschuldige wären betroffen. Die Russen nicht zu sperren, könnte als Signal interpretiert werden, dass sich dopen eben doch lohnt.
Eine Sperre durch den IAAF wäre für Russland ein schwerer Schlag. Es könnte aber noch schlimmer kommen. Kommende Woche tagt das Internationale Olympische Komitee. Es berät, ob es nicht nur Leichtathleten, sondern alle russischen Sportler von Rio ausschliessen soll. Das wäre die Höchststrafe für die Sportgrossmacht Russland.