Taiwan ist eine lebendige Demokratie. Doch alles, was zu lebendig ist und zu sehr Demokratie, ist für China eine Gefahr. Zumal die Kommunisten in China die Insel noch immer als abtrünnige Provinz betrachten und nicht als unabhängigen Staat.
Wohin steuert die Inselrepublik mit ihren 23 Millionen Taiwan-Chinesen? Fragen an den neuen SRF-China-Korrespondenten Martin Aldrovandi.
SRF News: Wo steht Taiwan heute – nach acht Jahren Kuomintang?
Martin Aldrovandi: In den letzten acht Jahren gab es eine sehr schnelle und starke Annäherung zwischen Peking und Taipeh. Inzwischen bestehen beispielsweise direkte Linienflüge zwischen den beiden Seiten der Taiwanstrasse. Chinesen vom Festland dürfen Taiwan besuchen, Studenten in Taiwan studieren. Dazu kommt ein weitreichendes Handelsabkommen. Letztes Jahr schüttelten sich die beiden Präsidenten sogar die Hände, was vorher überhaupt nicht denkbar war.
Trotzdem muss die Kuomintang-Partei Fehler gemacht haben, sonst würde sie jetzt nicht abgestraft?
Einerseits ging vielen Taiwanern die Annäherung mit China einfach zu schnell. Sie fürchten sich vor zu starker Abhängigkeit von Peking. Auch stagnieren die Löhne, während Preise und Mieten steigen. Zudem ist die jetzige Regierungspartei von Präsident Ma Ying-jeou in unzählige Skandale verwickelt. Es gab viele Korruptionsfälle. Damit hat die Partei sehr viel Vertrauen im Volk verspielt.
Die Oppositionspartei, die sich auch Demokratische Fortschrittspartei (DPP) nennt, dürfte nun das Zepter übernehmen. Wird sie ihrem Namen gerecht ?
Das hoffte man früher einmal. Die Fortschrittspartei wurde im Jahr 2000 gewählt und war während zweier Amtszeiten bis 2008 an der Macht. Danach waren viele Wähler bitter enttäuscht, weil es auch da sehr viele Korruptionsfälle und Skandale gab, in welche vor allem der damalige Präsident Chen Shui-bian verwickelt war. Aus diesem Grund ist Vorsicht geboten. Falls jetzt DPP-Kandidatin Tsai Ing-wen gewählt wird, muss man erst einmal abwarten, was sie macht.
Die Fortschrittspartei wird also nicht auf Konfrontationskurs mit China gehen und sogleich die Unabhängigkeit ausrufen?
Nein. Kandidatin Tsai Ing-wen will nach eigenen Worten den Status quo so lang wie möglich beibehalten. Es wird also weiterhin keine offizielle Unabhängigkeit, aber auch keine Vereinigung mit dem Festland geben. Man wird sich im bestehenden undefinierten Zustand weiterbewegen.
Macht es angesichts der wirtschaftlichen Probleme nicht Sinn, wenn die neue Regierung auch andere Märkte neben China zu erschliessen versucht?
Das wird in Taiwan bereits seit einigen Jahren diskutiert. Man sagt immer, man soll nicht alle Hühnereier in denselben Korb legen. So gibt es Investitionen unter anderem in Vietnam und Indien. Kurzfristig werden aber all diese Länder China nicht ersetzen können. Denn in China ist Taiwan schon viel zu lang mit Investitionen drin. Auch haben die Taiwanesen den Vorteil, dass sie auf dem chinesischen Festland Sprache und Kultur verstehen.
Die Jugend spielt in Taiwan eine wichtige Rolle. Vor zwei Jahren besetzten Studenten das Parlament, weil ihnen neue Handelsverträge mit China nicht passten. Muss sich die künftige Regierungspartei mit der Jugend gut stellen?
Das Problem ist, dass die Jugend das Vertrauen in beide Parteien fast vollständig verloren hat. Aus den damaligen wochenlangen Demonstrationen sind jetzt neue Parteien entstanden. Sie sind immer noch sehr klein und es ist noch nicht klar, ob sie es mit den grossen Parteien aufnehmen können. Sie haben aber eigene Themen lanciert wie soziale Gerechtigkeit, Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare und Umweltschutz. Sie treten erstmals zu den Wahlen an und die Jugend hofft.
Ist die taiwanesische Jugend nationalistisch?
Nationalistisch in dem Sinne, dass sich die Jungen immer mehr als Taiwaner sehen und immer weniger als Chinesen. Dieses Bewusstsein ist sehr stark gewachsen
Das Gespräch führte Simon Leu.