SRF-Korrespondent Sebastian Ramspeck beschreibt den aktuellen Zustand der Metropole Brüssel mit einem Begriff: «Schockstarre». «Doch die Reaktionen sind sehr individuell. Die einen sind panisch, andere demonstrativ besonnen.» Manche Menschen sprächen derweil offen davon, dass sie die Stadt am liebsten verlassen möchten.
Gemeinsam sei aber allen die Verunsicherung – und die Frage: Wie konnte sich in einer multikulturellen, weltoffenen Grossstadt eine militante Islamistenszene ausbilden? Und warum konnten weder die Behörden noch die Zivilgesellschaft dies verhindern?
Eine «Kultur des Wegschauens»
Sicherheitsexperte Kurt Spillmann sieht im belgischen Föderalismus einen wesentlichen Teil des Problems: Es fehle an Austausch und Kooperationsbereitschaft bei den flämischen und wallonischen Administrationen; dies schlage sich auch in der Terrorbekämpfung nieder. Christian Weisflog, Auslandredaktor der «Neuen Zürcher Zeitung», will nicht vorderhand den belgischen Behörden Versagen vorwerfen: «Auch in nicht-föderalistischen Staaten hat es schwere Anschläge gegeben.»
Für Weisflog liegen die Probleme tiefer. Er hält es für äusserst schwierig in «Parallelgesellschaften» wie der Islamisten-Hochburg Molenbeek überhaupt an Informationen zu kommen: «Wer mit der Presse spricht, ist ein Verräter. Das heisst nicht, dass diese Menschen den Terror gutheissen, aber man verrät niemanden nach aussen.»
Ermöglicht habe dies auch eine «Kultur des Wegschauens»: «Unsere liberale Staatsordnung hat dazu beigetragen, dass die Parallelgesellschaften wuchern konnten. Wir müssen vielleicht auch über unseren ideologischen Schatten springen.»
«Nicht in unserem Namen»
Elham Manea, Politikwissenschaftlerin an der Universität Zürich, stimmt zu: Sicherheitsmassnahmen allein seien nicht genug. «Die radikalen Islamisten arbeiten nicht in einem Vakuum, sondern in einem sozialen Kontext. Wir dürfen nicht zu einem Punkt kommen, an dem abgeschlossene Gesellschaften akzeptiert werden.»
Es gehe nicht um den Kampf gegen den Islam, sagt die Muslimin, sondern um dem Kampf gegen eine faschistoide Ideologie – unter der am allermeisten die Muslime selbst litten, die stigmatisiert würden: «In unserem Namen darf das alles nicht passieren.»
Muss Europa seine Grundwerte neu verhandeln?
Für Sicherheitsexperte Spillmann ist derweil klar: Europa war jahrelang zu nachlässig. «Wir müssen unsere Werte und unsere Spielregeln durchsetzen und verteidigen – auch gegenüber den Neuankömmlingen.» Zu lange sei man in Westeuropa einem «etwas naiven Ideal einer multikulturellen Gesellschaft» gefolgt. Dies hätten die Extremisten europaweit ausgenutzt.
Im Umgang mit radikalen Islamisten plädiert auch Weisflog für eine Lösung, die vordergründig dem freiheitlich-demokratischen Dogma widerspricht: «Es braucht mehr Intoleranz. Denn nur dann ist eine gesamtgesellschaftliche Toleranz möglich.» Die «einfachen Antworten» der Rechtspopulisten seien damit aber nicht gemeint: «Die staatliche Integrationspolitik muss überdacht werden, um Fehlentwicklungen rückgängig zu machen.»
Keine Toleranz an der falschen Stelle
Nationalratspräsidentin Christa Markwalder stimmt einer «Nulltoleranz» gegenüber Extremisten zu. «Unsere grundsätzlich offene und tolerante Haltung darf aber nicht unter diesen Attacken leiden. Und wir dürfen Muslime auf keinen Fall unter Generalverdacht stellen.» Denn dann hätten die Terroristen gewonnen.
Die Berner FDP-Politikerin hält indes fest, dass die Schweiz durchaus eine Integrationsleistung vorzuweisen habe: «Integration kostet und wir müssen investieren. Mit Grossstädten wie Brüssel und Paris ist die Situation in der Schweiz aber nicht zu vergleichen.» Mit diesem Votum stimmen alle Gesprächsteilnehmer überein.
Doch auch hierzulande sei eine unmissverständliche Rolle des Staates gefordert: «Die gesellschaftliche Diversität muss in Quartieren oder auch in Schulen abgebildet werden. Es kann nicht sein, dass irgendwo 90 Prozent aus einer Gruppe bestehen», fordert etwa Manea. Denn, so schliesst Weisflog, wenn man «Parallelgesellschaften entdeckt, ist es meistens schon zu spät.»