SRF News: Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu gibt das Mandat zur Regierungsbildung an Präsident Recep Tayyip Erdogan zurück. Was wird der tun?
Thomas Seibert: Präsident Erdogan wird auf Neuwahlen setzen. Das wird hier in der Türkei allgemein erwartet.
Was spricht denn gegen den Auftrag zur Regierungsbildung an die zweitstärkste Partei CHP?
Dagegen spricht Erdogans Mentalität und seine Strategie für die kommenden Monate. Er will nicht riskieren, dass die Opposition die Chance bekommt, die Regierung zu bilden. Er möchte die Macht bei seiner Partei AKP halten. Deshalb gehe ich davon aus, dass er Ministerpräsident Davutoglu mit der Bildung einer sogenannten Wahlregierung betrauen wird. Diese muss eine Regierung aus allen vier im Parlament vertretenen Parteien sein. Sie könnte schon am nächsten Montag gebildet werden. Das hiesse auch, dass die Kurdenpartei HDP erstmals in der Geschichte der Türkei in einer Regierung sitzen würde.
Die Regierung würde nur bis zu Neuwahlen im Amt sein?
Genau. So ist das in der türkischen Verfassung vorgesehen. Als Übergangsregierung hätte sie sonst keine Funktionen. Die Neuwahlen könnten dann im Oktober oder November stattfinden. Doch die Symbolkraft dieses Schrittes – dass die kurdische Partei HDP in der Regierung sitzen würde – wäre schon enorm.
Aber wirklich etwas ausrichten könnten die Kurden in dieser Regierung nicht...
Ich kann mir zumindest vorstellen, dass die Kurden in ihren dann vorgefundenen Ministerien durch die Akten gehen und einmal schauen, was Erdogans AKP in den letzten 13 Jahren so alles angestellt hat. Dabei könnte einiges ans Tageslicht kommen, das sich für den Wahlkampf verwenden liesse. Deshalb wollte Erdogan diese Variante eigentlich vermeiden. Aber jetzt bleibt ihm keine andere Wahl mehr.
Nehmen wir an, es kommt zu Neuwahlen im Herbst. Wie gross ist die Chance, dass diese ein Ergebnis bringen, welche die Regierungsbildung einfacher macht?
Diese Möglichkeit ist nicht besonders gross. Alle Umfragen sagen voraus, dass es wieder ein Vierparteienparlament geben wird. Das heisst, die AKP wird – wie bei den letzten Wahlen – keine absolute Mehrheit erhalten. Wenn es so kommt, könnte die Türkei am Ende des Jahres genau da stehen, wo sie im Juni schon einmal stand. Sie wird keinen Schritt weiter sein, und es wird genauso schwer, eine Regierung zu bilden.
Das Gespräch führte Hans Ineichen.